Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Der Fußball braucht neue Regeln
Der Video-Assistent kämpft auch Jahre nach seiner Einführung um Akzeptanz, die Idee von Zeitstrafen wird von vielen Profis, Fans und Experten skeptisch beäugt. Neuerungen haben es in der Sportart traditionell schwer. Dabei sind Veränderungen unerlässlich
„Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“Gary Linekers monumentale Pointe gehört zum immateriellen Welterbe des Fußballs. Dabei ist alles daran falsch. Nicht nur, dass inzwischen ganze Generationen von DFB-Mannschaften daran gearbeitet haben, den Nimbus der unbestechlich auf Erfolg programmierten deutschen Kickmaschinen zu ramponieren. Der Satz beginnt bereits mit einer Unwahrheit: Um Fußball mit einem einfachen Spiel zu verwechseln, darf man jedenfalls noch nie etwas von diametral abkippenden Sechsern, inversen Außen- oder Halbraumspielern gehört haben. Wie weit sich Teilbereiche des Fußballs inzwischen von denen entfernt haben, die ihn spielen oder ihn nur schauen, war zuletzt wieder eindrucksvoll in der Fußball-Bundesliga zu beobachten.
Denjenigen, der sich diese Regel ausgedacht hätte, würde er gerne einmal kennenlernen, schimpfte Darmstadts Trainer Torsten Lieberknecht am 23. Spieltag vor gut zwei Wochen. Anlass seiner unfreundlichen Einladung zum Tête-à-Tête war das vermeintliche Siegtor seiner „Lilien“gegen Bremen, das zur allgemeinen Verwunderung zurückgepfiffen worden war. Werders Torhüter Michael Zetterer hatte Tim Skarke den Ball an den angelegten Arm geschossen, bevor der alleine aufs Tor zulief und verwandelte. Es fand sich anschließend nicht mal ein Offizieller von Werder Bremen, der diesen Pfiff als gerecht empfunden hatte. Dem Schiedsrichter blieb nur entschuldigendes Schulterzucken.
Neben der Erkenntnis, dass Rechtsempfinden und Rechtsprechung auch im Fußball nicht übereinstimmen müssen, zeigte sich erneut, dass sogar Erstliga-Trainer mit manchen dunklen Ecken des Regelwerks fremdeln. Wer sich selbst einen Eindruck verschaffen möchte, wie weit die Wege von den obersten Regelhütern bis zu den Zuschauerplätzen sind, kann ja mal in der nächsten Fußballkneipe bei der Samstagskonferenz in die Runde fragen, wer die aktuelle Auslegung
der Handspielregel erklären kann.
Kommentatoren, die sich von Berufs wegen mit dem Thema auseinandersetzen, offenbaren regelmäßig Unsicherheiten darüber, wann etwa der Videoassistent nun wie genau eingreifen darf. Selbst Spieler bekennen immer wieder freimütig Bildungslücken.
Es ist ähnlich wie beim Steuersystem: die meisten wünschen sich ein möglichst schlankes Regelwerk. Je radikaler die Vereinfachung, desto komplizierter wird das Ganze aber. Dass man wegen Skarkes aberkanntem Tor den entsprechenden Passus aus der Handspielregel einfach streicht, könnte schon beim nächsten Spiel wütende Proteste nach sich ziehen, wenn der Spieler den angeschossenen Arm etwa weit abgespreizt hätte. Der gefühlten Gerechtigkeit wäre also vielleicht eher mit einem weiteren Absatz und
einer neuen Ausnahmeregel Sorge getragen. Auch die wünschen sich wenige.
Früher, dieser Einwand liegt nahe, war vieles einfacher. Es wurde über
Fehlentscheidungen gestritten, aber zumindest das Regelwerk gab wenig Anlass, über Grundsätzliches zu diskutieren. Nun stand der Fußball noch nie im Verdacht, Veränderungen auch nur neutral gegenüberzustehen. Wäre die Besetzung des Regelhüter-Komitees des International Football Association Boards (IFAB) Ergebnis einer demokratischen Abstimmung, würden mit hoher Wahrscheinlichkeit diejenigen dort sitzen, die mit dem Wahlversprechen antreten, dass alles so bleibt, wie es ist, oder – noch besser – wieder wird, wie es mal war.
Der Fußball ist jedoch aus guten Gründen mit Fernlicht auf der Gegenfahrbahn unterwegs. Der vielstimmig geforderte Rückbau des VAR (der Video-Assistent) stand nie wirklich zur Debatte. Die Handspielregel bleibt entgegen aller Absichtserklärungen zuverlässig kompliziert.
Stattdessen diskutiert das IFAB über weitere Ideen wie Blaue und BlauGelbe Karten, also die Einführung von Zeitstrafen. Die ist zwar vorerst vom Tisch, würde aber einen weiteren Paradigmenwechsel bedeuten, der im traditionell erzkonservativen Fußball vorsichtshalber auf breite Ablehnung stößt.
Wer den Fußball bewahren möchte, wie er immer war, sitzt aber einem grundsätzlichen Irrtum auf. Permanenter Wandel ist eine der wenigen Konstanten dieses Sports. Bäume auf dem Rasen, 15 bis 20 Spieler pro Team auf dem Feld, Feldspieler, die den Ball fangen – alles war irgendwann mal Teil des Spiels. Torhüter, Tornetze, Schuhpflicht – alles nicht im Regelwerk in seiner ursprünglichsten Version enthalten.
Die Modifizierung der Rückpassregel 1992, nach der Torhüter Zuspiele nicht mehr mit der Hand aufnehmen durften, kostete den FC Schalke zwar mutmaßlich 2001 die Meisterschaft, war aber ein fast schon revolutionärer Impuls für das damals stagnierende Spiel. Umgekehrt müssen heutige Regeln auch dem Umstand Rechnung tragen, dass der Fußball heutiger Machart nur noch entfernt mit dem der 1970er-Jahre verwandt ist.
Wer den Fußball bewahren will, möchte aber vielleicht auch bloß ein Gefühl beschützen, das nicht in erster Linie durch Regeländerungen in Gefahr ist, aber doch unwiederbringlich vorbei. Hilfreich ist ein Schulterblick zu neuen Formaten wie der „Baller League“, die aus der Not eine Tugend macht und ein junges Publikum gerade mit völlig neuen Regeln anzusprechen versucht. Über die wird zum Teil sogar am Glücksrad entschieden.
Dass in der Fußball-Bundesliga demnächst nur noch Volley-Tore zählen oder Spieler nach Überqueren der Mittellinie nicht mehr zurückspielen dürfen, ist in naher Zukunft nicht anzunehmen. Auch für den Fußball herkömmlicher Prägung ist die neue Konkurrenz aber eine weitere Herausforderung, die nicht mit der Bewahrung von Bewährtem bewältigt werden kann.
Um den Fußball als großen Populärsport in eine aussichtsreiche Zukunft zu überführen, müssen die Regelhüter zur selben Zeit mit Ungerechtigkeiten und Undurchsichtigkeiten aufräumen und neue Türen öffnen. Mit der heillos zerfaserten Handspielregel aufräumen. Den VAR etwa mit Stadiondurchsagen transparenter machen.
Von Schiedsrichter-Kameras könnten – ähnlich wie bei einer „Dashcam“im Auto – sogar Kreisliga-Referees profitieren, wenn sie bedrängt werden. Zeitstrafen könnten ein spannendes taktisches Element implementieren – der Fantasie sind wenig Grenzen gesetzt.
Vielleicht hilft es ein wenig dabei, das alles zu verkraften, wenn man den Fußball als atmenden Organismus begreift, als dauerhafte Baustelle, als Prozess, der allen, die ihn lieben, damit auch Teilhabe ermöglicht. Das ist das gründliche Gegenteil von einfach. Aber ein einfacher Fußball würde irgendwann auch einfach langweilig.