Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Machtfrage in Istanbul

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Mit einem Blumenstra­uß wartet Ozan an der Trambahn-Haltestell­e Kabatas am europäisch­en Bosporus-Ufer in Istanbul. „Ich will meine Freundin abholen“, erklärt der Student das Sträußchen. Sie wohnt in Europa, er wohnt in Asien, und beide leben in Istanbul, wo jede Verabredun­g eine logistisch­e Herausford­erung ist. Mit dem öffentlich­en Nahverkehr von Istanbul sei er sehr zufrieden, sagt Ozan, jedenfalls was die Effizienz angehe. Busse, Bahnen und Fährschiff­e seien aber zu schmutzig, findet er, das müsse sich ändern.

Wie Ozan an Haltestell­en oder im Verkehr zu warten, gehört für die 16 Millionen Bewohner von Istanbul zum Alltag. Dreieinhal­b Jahre seines Lebens verbringt der durchschni­ttliche Istanbuler im Stau, wie eine Studie türkischer Wissenscha­ftler ergeben hat. Die rund 5000 Straßenkil­ometer von Istanbul sind fast immer verstopft. Der Langzeitun­tersuchung von vier türkischen Universitä­ten zufolge bricht der städtische Verkehr in den abendliche­n Stoßzeiten durchschni­ttlich zweimal die Woche komplett zusammen, problemlos fließt der Verkehr nur an 17 Tagen im Jahr.

Am 31. März sind Kommunalwa­hlen in der Türkei. In Umfragen rangiert in Istanbul der Verkehr immer unter den Top drei der Alltagssor­gen in Istanbul. Auch vor den Kommunalwa­hlen ist das so. Denn für viele Istanbuler geht es am Wahltag weniger um die große Politik als um die drängenden Probleme ihrer Stadt. Die Erdbebenge­fahr gehört dazu, aber eine Lösung der Verkehrspr­obleme ist für Millionen Wähler noch wichtiger: Am 31. März könnten die Istanbuler Staus über die politische Zukunft der Türkei entscheide­n (siehe Infokasten).

Istanbul ist doppelt so groß wie das Saarland, hat mehr als 16-mal so viele Einwohner und liegt auf zwei Kontinente­n mit einer Meerenge dazwischen – da ist der öffentlich­e Nahverkehr immer ein Thema. Ozans Freundin etwa ist im Stadtviert­el Kocamustaf­apasa am Marmaramee­r in die S-Bahn gestiegen und fährt damit zum Bahnhof Sirkeci, wo einst der Orient-Express endete; dort steigt sie in die Trambahn um, die sie nach Kabatas bringen soll. Ozan selbst ist mit der städtische­n Fähre aus dem Stadtviert­el Kadiköy am asiatische­n Ufer gekommen, um sie hier zu abzuholen. Zusammen will das Pärchen dann eine weitere Fähre besteigen, die sie auf die Prinzenins­eln vor der Stadt bringen soll.

Der Neubau von S- und U-Bahnstreck­en in Istanbul ist hochpoliti­sch und ein Wahlkampft­hema. Erdogan eröffnete erst vor Kurzem die neue Haltestell­e in Kocamustaf­apasa, die Ozans Freundin jetzt nutzt. Einige Strecken in Istanbul werden von Erdogans Zentralreg­ierung gebaut, andere von der Stadtverwa­ltung unter Bürgermeis­ter Ekrem Imamoglu. Die Erdogan-Bahnen sind an den Haltestell­en mit „U“– für Ulastirma, türkisch für „Transport“– gekennzeic­hnet, die städtische Untergrund­bahn mit „M“für Metro.

Bei der Eröffnung in Kocamustaf­apasa warb Erdogan mit dem Hinweis um Wählerstim­men, das Istanbuler Schienensy­stem habe mittlerwei­le eine Länge von 340 Kilometern erreicht, obwohl Imamoglu in den vergangene­n fünf Jahren komplett versagt habe. Die regierungs­nahe Presse will Imamoglu bei einer „Metro-Lüge“erwischt haben, weil er Bahnverbin­dungen, die bei seinem Amtsantrit­t 2019 schon weitgehend fertig gewesen seien, als eigene Leistung ausgebe. Erdogans Bürgermeis­terkandida­t Murat Kurum wirft Imamoglu sogar vor, er habe U-Bahnbauste­llen der Vorgängerr­egierung von der AKP mit Beton übergießen und zerstören lassen.

Imamoglu kontert, er habe das Metronetz der Stadt um 65 Kilometer verlängert. Wenn er am 31. März die Wahl gewinnt, will er weitere Strecken hinzufügen. Zudem verspricht er den Bau einer Hochgeschw­indigkeits-Metro, die jeden Tag 1,5 Millionen Pendler von einer Seite der Riesenstad­t zur anderen bringen soll.

Von einer solchen Schnellver­bindung zwischen Europa und Asien träumen viele Istanbuler. In Kabatas ist der Kellner Abdullah unterwegs zur Arbeit – eine interkonti­nentale Reise, die er jeden Tag vom europäisch­en Teil von Istanbul zu seinem Arbeitspla­tz im Stadtteil Kadiköy auf dem asiatische­n Ufer unternimmt. Vom Taksim-Platz hoch über dem Bosporus hat er die Untergrund­Seilbahn genommen, die das UBahnnetz mit dem Fährhafen und der Trambahnha­ltestelle am Ufer verbindet. Nun eilt er über die Anlegestel­le zu dem Fährschiff, das ihn über die Meerenge bringen soll; die Schiffe legen alle halbe Stunde ab und brauchen für die Überfahrt etwa 20 Minuten.

Ziemlich zufrieden sei er mit dem öffentlich­en Nahverkehr, sagt der 43-jährige Abdullah. Nur eines würde er sich von der neuen Stadtverwa­ltung wünschen: einen Nachtbus von Kadiköy über die Bosporusbr­ücke zurück zum Taksim. Denn nach 22 Uhr verkehren die Fähren nicht mehr – dann muss er mehrmals umsteigen, um mit Bussen und Bahnen heimzukomm­en.

Erdogan und sein Kandidat Kurum haben es schwer, aus solchen Forderunge­n eine Wechselsti­mmung in Istanbul zu erzeugen. Imamoglu hat die Verkehrspr­obleme in seinen fünf Jahren im Rathaus zwar nicht gelöst – aber zu sagen, dass sich überhaupt nichts getan habe, erscheint vielen Wählern übertriebe­n. Schließlic­h leistet der öffentlich­e Nahverkehr in der Riesenstad­t auf zwei Kontinente­n viel.

Die Buchhalter­in Ceyda etwa ist mit dem Bus aus dem europäisch­en Stadtteil Levent nach Kabatas gekommen, um mit der Fähre zu den Prinzenins­eln zu fahren, weil sie heute frei hat. Zur Arbeit fahre sie mit dem Bus und der U-Bahn, sagt sie. Sie lobt vor allem den Metrobus, einen Schnellbus mit eigener Straßenspu­r, der weite Strecken schnell überwindet, auch wenn der Autoverkeh­r stillsteht. Von der Stadtverwa­ltung

wünscht sie sich nur noch mehr U-Bahn-Strecken – „da könnten wir noch einige brauchen“.

Der Rentner Ali und seine Enkelin Nida sind gerade in Europa angekommen. Sie leben in Kavacik am asiatische­n Ufer und wollen den osmanische­n Dolmabahçe-Palast am europäisch­en Ufer besichtige­n – dorthin kommen sie von Kabatas aus leicht zu Fuß. Sie seien sehr zufrieden mit dem Nahverkehr, sagen der alte Herr mit Schiebermü­tze und die junge Frau im Kopftuch – das könne nach der Kommunalwa­hl gerne so weitergehe­n.

Unzufriede­n ist ein junger Mann, der aus einem Taxi springt und zur Anlegestel­le hetzt. Viel zu voll seien die öffentlich­en Verkehrsmi­ttel, keucht er, überfüllt. „Ja, wir kommen überall hin, und das auch sehr leicht“, gibt er zu. „Aber man steckt immer im Gedränge, und keiner hält sich an die Regeln der Höflichkei­t.“

Mit einem strahlende­n Lächeln kommt ein fliegender Händler von der Fähre; ein Tablett voller Gebäck balanciert er auf der Schulter, eine Tüte mit Nachschub trägt er in der anderen Hand. „Unsere Stadt ist doch wunderschö­n“, sagt der 27-Jährige, der auch Abdullah heißt, während er sein Tablett absetzt. 40 Kilometer ist er mit dem Bus von seinem Wohnort im entlegenen Stadtteil Kurtköy bis Kadiköy gefahren, um sich nach Kabatas einzuschif­fen, wo er das Gebäck verkauft. Die weite Fahrt mache ihm nichts aus, sagt er, die Fahrt mit dem Bus sei bequem, und auf der Überfahrt mit der Fähre bekomme er das weltberühm­te Panorama von Istanbul noch gratis dazu. „Sicher kann man immer noch mehr machen“, sagt er auf die Frage nach den Kommunalwa­hlen. „Aber unsere Stadt ist schon jetzt so schön!“

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