Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Machtfrage in Istanbul
ISTANBUL Mit einem Blumenstrauß wartet Ozan an der Trambahn-Haltestelle Kabatas am europäischen Bosporus-Ufer in Istanbul. „Ich will meine Freundin abholen“, erklärt der Student das Sträußchen. Sie wohnt in Europa, er wohnt in Asien, und beide leben in Istanbul, wo jede Verabredung eine logistische Herausforderung ist. Mit dem öffentlichen Nahverkehr von Istanbul sei er sehr zufrieden, sagt Ozan, jedenfalls was die Effizienz angehe. Busse, Bahnen und Fährschiffe seien aber zu schmutzig, findet er, das müsse sich ändern.
Wie Ozan an Haltestellen oder im Verkehr zu warten, gehört für die 16 Millionen Bewohner von Istanbul zum Alltag. Dreieinhalb Jahre seines Lebens verbringt der durchschnittliche Istanbuler im Stau, wie eine Studie türkischer Wissenschaftler ergeben hat. Die rund 5000 Straßenkilometer von Istanbul sind fast immer verstopft. Der Langzeituntersuchung von vier türkischen Universitäten zufolge bricht der städtische Verkehr in den abendlichen Stoßzeiten durchschnittlich zweimal die Woche komplett zusammen, problemlos fließt der Verkehr nur an 17 Tagen im Jahr.
Am 31. März sind Kommunalwahlen in der Türkei. In Umfragen rangiert in Istanbul der Verkehr immer unter den Top drei der Alltagssorgen in Istanbul. Auch vor den Kommunalwahlen ist das so. Denn für viele Istanbuler geht es am Wahltag weniger um die große Politik als um die drängenden Probleme ihrer Stadt. Die Erdbebengefahr gehört dazu, aber eine Lösung der Verkehrsprobleme ist für Millionen Wähler noch wichtiger: Am 31. März könnten die Istanbuler Staus über die politische Zukunft der Türkei entscheiden (siehe Infokasten).
Istanbul ist doppelt so groß wie das Saarland, hat mehr als 16-mal so viele Einwohner und liegt auf zwei Kontinenten mit einer Meerenge dazwischen – da ist der öffentliche Nahverkehr immer ein Thema. Ozans Freundin etwa ist im Stadtviertel Kocamustafapasa am Marmarameer in die S-Bahn gestiegen und fährt damit zum Bahnhof Sirkeci, wo einst der Orient-Express endete; dort steigt sie in die Trambahn um, die sie nach Kabatas bringen soll. Ozan selbst ist mit der städtischen Fähre aus dem Stadtviertel Kadiköy am asiatischen Ufer gekommen, um sie hier zu abzuholen. Zusammen will das Pärchen dann eine weitere Fähre besteigen, die sie auf die Prinzeninseln vor der Stadt bringen soll.
Der Neubau von S- und U-Bahnstrecken in Istanbul ist hochpolitisch und ein Wahlkampfthema. Erdogan eröffnete erst vor Kurzem die neue Haltestelle in Kocamustafapasa, die Ozans Freundin jetzt nutzt. Einige Strecken in Istanbul werden von Erdogans Zentralregierung gebaut, andere von der Stadtverwaltung unter Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Die Erdogan-Bahnen sind an den Haltestellen mit „U“– für Ulastirma, türkisch für „Transport“– gekennzeichnet, die städtische Untergrundbahn mit „M“für Metro.
Bei der Eröffnung in Kocamustafapasa warb Erdogan mit dem Hinweis um Wählerstimmen, das Istanbuler Schienensystem habe mittlerweile eine Länge von 340 Kilometern erreicht, obwohl Imamoglu in den vergangenen fünf Jahren komplett versagt habe. Die regierungsnahe Presse will Imamoglu bei einer „Metro-Lüge“erwischt haben, weil er Bahnverbindungen, die bei seinem Amtsantritt 2019 schon weitgehend fertig gewesen seien, als eigene Leistung ausgebe. Erdogans Bürgermeisterkandidat Murat Kurum wirft Imamoglu sogar vor, er habe U-Bahnbaustellen der Vorgängerregierung von der AKP mit Beton übergießen und zerstören lassen.
Imamoglu kontert, er habe das Metronetz der Stadt um 65 Kilometer verlängert. Wenn er am 31. März die Wahl gewinnt, will er weitere Strecken hinzufügen. Zudem verspricht er den Bau einer Hochgeschwindigkeits-Metro, die jeden Tag 1,5 Millionen Pendler von einer Seite der Riesenstadt zur anderen bringen soll.
Von einer solchen Schnellverbindung zwischen Europa und Asien träumen viele Istanbuler. In Kabatas ist der Kellner Abdullah unterwegs zur Arbeit – eine interkontinentale Reise, die er jeden Tag vom europäischen Teil von Istanbul zu seinem Arbeitsplatz im Stadtteil Kadiköy auf dem asiatischen Ufer unternimmt. Vom Taksim-Platz hoch über dem Bosporus hat er die UntergrundSeilbahn genommen, die das UBahnnetz mit dem Fährhafen und der Trambahnhaltestelle am Ufer verbindet. Nun eilt er über die Anlegestelle zu dem Fährschiff, das ihn über die Meerenge bringen soll; die Schiffe legen alle halbe Stunde ab und brauchen für die Überfahrt etwa 20 Minuten.
Ziemlich zufrieden sei er mit dem öffentlichen Nahverkehr, sagt der 43-jährige Abdullah. Nur eines würde er sich von der neuen Stadtverwaltung wünschen: einen Nachtbus von Kadiköy über die Bosporusbrücke zurück zum Taksim. Denn nach 22 Uhr verkehren die Fähren nicht mehr – dann muss er mehrmals umsteigen, um mit Bussen und Bahnen heimzukommen.
Erdogan und sein Kandidat Kurum haben es schwer, aus solchen Forderungen eine Wechselstimmung in Istanbul zu erzeugen. Imamoglu hat die Verkehrsprobleme in seinen fünf Jahren im Rathaus zwar nicht gelöst – aber zu sagen, dass sich überhaupt nichts getan habe, erscheint vielen Wählern übertrieben. Schließlich leistet der öffentliche Nahverkehr in der Riesenstadt auf zwei Kontinenten viel.
Die Buchhalterin Ceyda etwa ist mit dem Bus aus dem europäischen Stadtteil Levent nach Kabatas gekommen, um mit der Fähre zu den Prinzeninseln zu fahren, weil sie heute frei hat. Zur Arbeit fahre sie mit dem Bus und der U-Bahn, sagt sie. Sie lobt vor allem den Metrobus, einen Schnellbus mit eigener Straßenspur, der weite Strecken schnell überwindet, auch wenn der Autoverkehr stillsteht. Von der Stadtverwaltung
wünscht sie sich nur noch mehr U-Bahn-Strecken – „da könnten wir noch einige brauchen“.
Der Rentner Ali und seine Enkelin Nida sind gerade in Europa angekommen. Sie leben in Kavacik am asiatischen Ufer und wollen den osmanischen Dolmabahçe-Palast am europäischen Ufer besichtigen – dorthin kommen sie von Kabatas aus leicht zu Fuß. Sie seien sehr zufrieden mit dem Nahverkehr, sagen der alte Herr mit Schiebermütze und die junge Frau im Kopftuch – das könne nach der Kommunalwahl gerne so weitergehen.
Unzufrieden ist ein junger Mann, der aus einem Taxi springt und zur Anlegestelle hetzt. Viel zu voll seien die öffentlichen Verkehrsmittel, keucht er, überfüllt. „Ja, wir kommen überall hin, und das auch sehr leicht“, gibt er zu. „Aber man steckt immer im Gedränge, und keiner hält sich an die Regeln der Höflichkeit.“
Mit einem strahlenden Lächeln kommt ein fliegender Händler von der Fähre; ein Tablett voller Gebäck balanciert er auf der Schulter, eine Tüte mit Nachschub trägt er in der anderen Hand. „Unsere Stadt ist doch wunderschön“, sagt der 27-Jährige, der auch Abdullah heißt, während er sein Tablett absetzt. 40 Kilometer ist er mit dem Bus von seinem Wohnort im entlegenen Stadtteil Kurtköy bis Kadiköy gefahren, um sich nach Kabatas einzuschiffen, wo er das Gebäck verkauft. Die weite Fahrt mache ihm nichts aus, sagt er, die Fahrt mit dem Bus sei bequem, und auf der Überfahrt mit der Fähre bekomme er das weltberühmte Panorama von Istanbul noch gratis dazu. „Sicher kann man immer noch mehr machen“, sagt er auf die Frage nach den Kommunalwahlen. „Aber unsere Stadt ist schon jetzt so schön!“