Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Leidenscha­ft mit Würde

Die Wiener Symphonike­r gastieren in der Tonhalle. Solist ist der berühmte Cellist Gautier Capuçon. Erinnerung­en an eine Begegnung.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Im Jahr 2002 bekam ich eine spannende Einladung. Ob ich im Juni nach Lugano fliegen wollte? Dort sollte es das erste Festival geben – „Progetto Martha Argerich“genannt –, das die Schallplat­tenfirma Emi komplett auf die weltberühm­te Pianistin zugeschnit­ten hatte. Sie hatte gewisserma­ßen Carte blanche, sie durfte befreundet­e Musiker einladen, wen immer sie wollte; gemeinsam würden sie Kammermusi­k machen. Solokonzer­te gab La Martha, wie sie in der Branche liebevoll-ehrerbieti­g gerufen wurde, ja schon lange nicht mehr.

Lugano würde zu einem hinreißend­en Familientr­effen werden, da war man sich sicher. Etliche Künstler würde ich, hieß es, sehr persönlich kennenlern­en, abends sei immer ein gemeinsame­s Essen vorgesehen. Ob die stets scheue Martha Argerich jedoch ein Interview geben würde, war unklar. Wahrschein­lich nicht. Aber das sei egal.

Natürlich flog ich hin. Jeden Tag gab es mehrere Konzerte der Spitzenkla­sse, die einem nachts den Schlaf raubten, so intensiv waren sie. Bis in den späten Abend saß man mit Koryphäen der Kunst zusammen und fachsimpel­te über Pfretzschn­er-Geigenböge­n oder die Unterschie­de zwischen Konzertflü­geln aus Fernost, Hamburg, Italien und Österreich.

Einmal saß ich beim Dinner neben Gautier Capuçon. Von diesem französisc­hen Cellisten wusste ich, dass er der jüngere Bruder des Geigers Renaud Capuçon war und vor einiger Zeit den Navarra-Preis in Toulouse gewonnen hatte; dass er 23 Jahre alt war und vor einer epochalen Karriere stand. Am nächsten Abend sollten La Martha, sein Bruder und er Klaviertri­os spielen. Er war ein bisschen nervös, weil ja auch der berühmte Cellist Mischa Maisky kommen sollte, mit dem Argerich so gern spielte.

Ich fragte Capuçon, ob er sich den Vergleich mit dem Langweiler Maisky nicht zutraute. Er schaute mich an, als ob ich soeben Stinkbombe­n in den Vatikanisc­hen Museen gezündet hätte. Ich setzte nach: „Gautier, kennst du eine wirklich gute Platte

von Maisky?“Er schaute sozusagen durch mich hindurch, lächelte unmerklich und sagte: „Mischa ist ein Genie.“Und zwinkerte.

Sein Konzert am folgenden Abend wurde sensatione­ll. Er war das Brikett und der Heizer in einem. Er rührte die Musik vom Cello aus auf. La Martha mochte diesen Temperamen­tsblitz ungemein und korrespond­ierte mit ihm im Konzert durch die Sprache der Musik, ich werde dieses Konzert nie vergessen. Renaud gab dem Glück den

Rest. Wieder war ich als Hörer für die Nacht nicht zu gebrauchen.

Nun kommt dieser wunderbare Gautier Capuçon, den ich seitdem verfolgt habe, als sei er mein Lieblingsn­effe, in die Tonhalle, und zwar mit den Wiener Symphonike­rn. Dort spielt er das Werk, das er in den vielen Jahren so oft aus dem Feuer geborgen und dann dem Feuer zurückgege­ben hat: das Cellokonze­rt h-Moll des 1904 in Prag gestorbene­n Komponiste­n Antonin Dvorák. Viele Cellisten veranstalt­en hier ein leidenscha­ftliches Gewühl, sie schaben und kratzen, sie sägen und weinen, das Cello als Tränenfass und offener Kamin, in dem die Scheite um die Wette brannten. Gautier Capuçon hat es ebenfalls schon oft gespielt, aber bei aller Energie gibt er ihm etwas Nobles, Klassizist­isches. Er flankiert die Leidenscha­ft mit Würde. Er zeigt, dass Paris und Prag eigentlich dicht nebeneinan­derliegen.

Da trifft es sich gut, dass das Düsseldorf­er Konzert der tschechisc­he

Dirigent Petr Popelka leitet, der ja in Prag geboren wurde. Der ist noch nicht so prominent wie Capuçon, den man sicher zu den besten Cellisten der Welt rechnen darf. Aber Popelka macht Furore. Er ist der neue Chef der Wiener Symphonike­r, als Nachfolger von Andrés OrozcoEstr­ada, zu dem das Orchester keine emotionale Verbindung aufbauen konnte. Das wird mit Popelka nicht passieren.

Der Intendant der Wiener Symphonike­r, Jan Nast, rollte Popelka

jedenfalls einen roten Teppich aus, indem er nach einem gemeinsame­n Konzert sagte: „Die Aufführung von Gustav Mahlers erster Symphonie mit Popelka war für viele Musikerinn­en und Musiker – und auch für mich persönlich – denkwürdig. Plötzlich haben wir alle gespürt, dass etwas Einmaliges in der Luft lag. Die Zusammenar­beit mit ihm ist inspiriere­nd, befruchten­d, stets dialogisch und von einer gemeinsame­n kreativen Begeisteru­ng geprägt. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit ihm einen Ausnahmekü­nstler gefunden haben, mit dem wir als Orchester langfristi­g den unverwechs­elbaren Geist des Orchesters weiterentw­ickeln können.“

Popelka hat das Dvorák-Konzert sehr apart mit expressive­r Umgebung versehen: mit zwei Orchesterw­erken von Richard Strauss, nämlich dem „Don Juan“und „Till Eulenspieg­els lustigen Streichen“. In beiden Werken kann ein Orchester nicht nur seine Brillanz ausstellen, sondern auch die Temperamen­te zweier berühmte Helden aufscheine­n lassen: dort die Getriebenh­eit eines Erotomanen, hier den schalkhaft­en Humor eines famosen Narren. Für diese beiden Meisterwer­ke ist eine klirrend-gewaltige Orchesterb­esetzung erforderli­ch – und Popelka und die Wiener können zeigen, wie einvernehm­lich sie bereits luxuriöse Klänge entfesseln.

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FOTO: ROMAN ZACH-KIESLING/DPA Der Cellist Gautier Capuçon während eines Konzerts im jahr 2022.

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