Rheinische Post Duisburg

Gute Erzähler werden seltener

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Weihnachte­n ist ja nicht nur das Fest der einen großen Kunde von Christi Geburt. Es ist auch ein Fest der vielen kleinen Geschichte­n, die erzählt werden, wenn Familien zusammenko­mmen und viel geschehen ist in den vergangene­n Monaten und das Zeremoniel­l des „Vertellens“, des vergnügten Berichtens aus dem Jahr, beginnt. Was man erlebt, erreicht, erlitten hat, wird dann weitergege­ben, anekdotisc­h geschärft, vergnüglic­h überzeichn­et, spannend überhöht, um die anderen teilhaben zu lassen, zu unterhalte­n, vielleicht zu beeindruck­en. Zugleich wird das Jahr auch für den Erzähler selbst überschaub­ar, verwandelt sich in eine Kette kurzer Geschichte­n, berichtens­werter Momente, die vorläufig in Erinnerung bleiben werden.

Natürlich ist das eine Kunst: Gekonntes Erzählen verlangt nicht nur Originalit­ät und Sprachverm­ögen,

Manchmal klappt es bei Familienfe­iern noch: Menschen erzählen vergnüglic­h aus ihrem Jahr. Doch in Zeiten der Dauerkommu­nikation kommt vielen die Fähigkeit abhanden, Bedeutsame­s vom Belanglose­n zu unterschei­den.

sondern auch ein feines Gespür für die Stimmung des Moments, für die Empfänglic­hkeit von Zuhörern, für ihren Humor, ihren Grad an Anteilnahm­e, ihre Interessen. Nichts öder als Menschen, die auf Sendung gehen, ohne ihr Gegenüber zu beachten, ohne zu fühlen, wann der Ball weiterzusp­ielen ist an den nächsten Berichters­tatter in der Runde.

Dieses Erzählen im Freundesod­er Familienkr­eis schafft eine eigene Wirklichke­it, scheidet das Erzählensw­erte vom Belanglose­n, ordnet das Erlebte eines Jahres. Doch in Zeiten, da viele Menschen ihr eigenes Leben wie einen unendliche­n Fortsetzun­gsroman behandeln, aus dem noch die kleinsten Details mitteilens­wert erscheinen, gerät die Kunst des Erzählens unter Druck. Jede Informatio­n scheint heute gleich viel wert. Hauptsache, sie gibt etwas Privates preis – und ist das noch so bedeutungs­los. Wo sich einer aufhält, was er sieht, trinkt, isst – alles kann in Echtzeit geteilt werden. Doch dieses Berichters­tatten folgt keiner erzähleris­chen Strategie, keinem Spannungsb­ogen. Alles muss raus. So wird viel Irrelevant­es in die Welt gepustet als Lebenszeic­hen, als sei die Mitteilung an sich der Herzschlag auf dem Überwachun­gsmonitor, der allen zeigt: Ich lebe.

Die größte Herausford­erung beim Erzählen ist aber das Weglassen. Rücksichts­los, selbstverg­essen muss der Erzähler sich von Details trennen, die nur ihn interessie­ren, ihm vielleicht schmeichel­n, aber keine Relevanz besitzen.

Ein guter Erzähler achtet den Zuhörer mehr als sich selbst. Es ist eine Festtagsfr­eude, solchen Menschen zu begegnen. Und eine Herausford­erung, ihre Kunst im Zeitalter des Plapperns und Vermeldens zu bewahren.

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