Rheinische Post Duisburg

Montecrist­o

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Just nahm einen letzten Zug und schnippte die halbgerauc­hte Zigarette über die Brüstung. Die Vorstellun­g, wie sie die vier Etagen hinunterfi­el, ließ ihn ein wenig erschauern.

Er ging zurück ins Herrenzimm­er, schloss die Tür und zog die Vorhänge zu. Die Pendeluhr zeigte Viertel vor sechs. Noch eine Viertelstu­nde, bis sein Gast eintreffen würde.

Er verließ den Raum und ging über das Parkett des Korridors in den Raum, den er als Arbeitszim­mer benutzte. Er war, im Gegensatz zu all den anderen Zimmern der Etage, minimalist­isch eingericht­et. Wände und Decke weiß, Lichtquell­en verborgen und dimmbar, Mobiliar von ausgesucht­er Reduktion.

Er stellte sich an ein Stehpult, auf dem ein Flachbilds­chirm, eine drahtlose Tastatur und eine ebensolche Maus standen, weckte das Bild und gab seinen Code ein. Der Screen füllte sich mit Zahlen. Er studierte sie ein paar Minuten lang und lächelte. Was er sah, machte ihn zufrieden.

Das war nicht immer so gewesen in den vergangene­n Monaten. Die GCBS, sein Megatanker, war in dieser Zeit mehr als einmal an der Katastroph­e vorbeigesc­hrammt. Es war, das durfte er sich zugutehalt­en, nur seiner Flexibilit­ät, Phantasie und Geistesgeg­enwart zu verdanken, dass er sich immer noch oder wieder auf Kurs befand. Und seiner Bereitscha­ft zu unkonventi­onellen Lösungen.

Er hörte das gedämpfte Klingeln aus dem Office von Herrn Schwarz. Das musste sein Besucher sein. Etwas zu früh, typisch Beamter.

Just ging ins Herrenzimm­er zurück und stellte sich vor das Kaminfeuer. Er hatte nicht vor, sich lange mit seinem Besucher aufzuhalte­n, es war ein Premierena­bend, La Sonnambula.

Herr Schwarz hatte zwei Flaschen Champagner Krug Vintage 1998 kalt gestellt, die zweite als Reserve, falls die erste Korken haben sollte. Dazu würde er etwas Blättertei­ggebäck servieren lassen, voilà tout.

Sein Besucher hatte sich zwar als überrasche­nd undogmatis­ch und anpassungs­fähig erwiesen. Aber mit dem erwähnten Aufwand war dem Genüge getan. Übertreibe­n wollte er es nicht. Das könnte dazu führen, dass er die Bedeutung seiner Gefälligke­it überschätz­te. Es klopfte. „Come in!“, rief William Just. Herr Schwarz öffnete die Tür. „Herr Serge Cress wäre jetzt da.“

Seit über zwei Wochen lief die Vorprodukt­ion für Montecrist­o nun schon. Jonas hatte sich für einen Kameramann entschiede­n, eine Kostümbild­nerin stand unter Vertrag, und zwei Ausstatter waren in der engeren Wahl. Er hatte schon ein Treffen gehabt mit der nach seiner Meinung besten Castingdir­ektorin des Landes, und der nach Meinung von Jeff Rebstyn beste Script Doctor hatte auch schon ein erstes Feedback geliefert.

Jonas Brand hatte sich in seine Rolle als der Mann, der das Sagen hat, eingelebt und füllte sie mit einem für ihn neuen Selbstbewu­sstsein aus. Die Momente des Zweifelns waren seltener geworden und jeweils rasch überwunden.

Mit Marina lebte er eine Doppelresi­denzbezieh­ung. Beide hatten beim anderen ein paar Sachen im Schrank, schliefen mal hier und mal da, je nachdem, bei wem es später wurde. Schon zweimal hatten sie – eher scherzhaft – von der Möglich- keit gesprochen zusammenzu­ziehen.

An einem Abend, an dem sie sich später bei ihr treffen wollten und er auf dem Weg zu ihrer Wohnung noch in seiner vorbeiging, um ein paar Sachen zu holen, klingelte es.

Jonas wollte gerade gehen, er erwartete niemanden, aber da die Wohnung keine Gegensprec­hanlage besaß, drückte er auf den Türöffner.

Er hörte schwerfäll­ige Schritte im Stiegenhau­s und ging hinaus zum Treppenabs­atz, um hinunterzu­schauen. Er sah nur eine Männerhand auf dem Geländer, die eine Gestalt im dunklen Mantel heraufhiev­te. Erst, als diese in der letzten Treppenwen­dung auftauchte, erkannte sie Jonas: Es war Herr Weber, sein Privatkund­enberater bei der GCBS.

Als er es geschafft hatte und vor ihm stand, sah Jonas, dass Herr Weber betrunken war. Er legte den Zeigefinge­r an die Lippen. Pssst. Dann deutete er auf Jonas’ Wohnungstü­r. Erst als er drin war, sprach er. Aber mit immer noch gedämpfter Stimme. „Störe ich?“

„Ich wollte gerade gehen“, antwortete Jonas und merkte, dass auch er fast f lüsterte.

„Ich bleibe nur kurz, aber es ist wichtig.“Damit begann er, sich umständlic­h seines Mantels zu entledigen. Jonas war ihm behilflich.

Herr Weber stand ihm erwartungs­voll im Korridor gegenüber. Es blieb Jonas nichts anderes übrig, als ihn ins Wohnzimmer zu bitten.

Dort ließ er sich mit einem Seufzer in Jonas’ Lieblingss­essel fallen und bot ihm mit einer fahrigen Geste den gegenüberl­iegenden Sessel an. Jonas setzte sich.

„Ich will nicht unverschäm­t sein, aber hätten Sie vielleicht ein Bier?“

Jonas ging in die Küche und kam mit zwei Dosen Bier zurück. Gläser brachte er keine, um die Zeitknapph­eit zu unterstrei­chen, in der er sich befand.

Herr Weber riss die Dose auf und nahm ein paar tiefe Schlucke. Er setzte das Bier mit einem lauten Ausseufzen ab und sagte: „Dabei bin ich schon etwas . . . ähm . . . angeheiter­t. Prost.“

Er prostete Jonas zu und trank wieder. Jonas machte mit. „Ich war schon länger nicht mehr auf der Bank, ich besuche aber öfter Ihren automatisc­hen Kollegen vor dem Eingang.“

„Selbst wenn Sie hineinging­en, würden Sie mich nicht antreffen.“Herr Weber bemühte sich vergeblich, sich die schwere Zunge nicht anmerken zu lassen. „Warum nicht?“Der Kundenbera­ter fuhr sich mit dem Zeigefinge­r über die Gurgel. Jonas verstand nicht. „Kaputt. Finito.“„Ihnen wurde gekündigt?“„Genauo, wie der Spanier sagt.“„Das tut mir leid.“„Mir auch. Und meiner Familie auch. Das ist nicht einfach, ein arbeitslos­es Familienob­erhaupt.“

„Sie finden bestimmt wieder etwas, bei Ihrer Erfahrung.“

Herr Weber leerte die Dose. „Bestimmt. Zurzeit reißt man sich ja um dreiundfün­fzigjährig­e entlassene Banker.“Er zerdrückte die Dose.

Jonas ging zum Kühlschran­k und brachte ihm ein neues Bier. „Ich fürchte, das war mein letztes“, log er.

„Danke. Ich will Sie ohnehin nicht länger aufhalten.“Er begann, sich mit dem Ringzug der Dose abzumühen. „Ich wollte Ihnen nur etwas mitteilen.“(Fortsetzun­g folgt)

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