Rheinische Post Duisburg

Sieben Minuten lang schießt der Täter um sich

- VON SUSANNE GÜSTEN

Der Anschlag auf einen Istanbuler Club erinnert an das Massaker im Pariser „Bataclan“. War der Hass auf westliche Bräuche ein Motiv?

ISTANBUL Es ist kurz vor halb zwei Uhr Ortszeit in der Silvestern­acht, und im „Reina“geht es hoch her. In dem edlen Club am Bosporus-Ufer im Istanbuler Stadtteil Ortaköy feiern 600 Gäste mit Champagner, Wein und Whisky das neue Jahr. Das „Reina“ist so teuer, dass ein schöner Abend hier mehr kosten kann, als ein normaler Türke im Monat verdient. Manche Gäste kommen nicht mit dem Wagen zum Club, sondern mit ihrer Jacht. Türsteher und Sicherheit­sleute sollen die Spielwiese der Schickeria schützen, aber sie können nicht verhindern, dass sich die Neujahrspa­rty in einen blutigen Albtraum verwandelt.

Während drinnen gefeiert wird, rennt draußen ein Angreifer mit einem Schnellfeu­ergewehr auf den Eingang des „Reina“zu. Manche Augenzeuge­n sagen, er habe ein Weihnachts­mannkostüm getragen, doch Ministerpr­äsident Binali Yildirim wird das später dementiere­n. Der Unbekannte erschießt einen Polizisten und einen weiteren Menschen und läuft, wild um sich feuernd, ins Innere des Clubs. Menschen schreien, stürzen blutend zu Boden. Eine Frau berichtet, sie habe nur überlebt, weil mehrere Leichen auf ihr lagen. Einige Gäste springen ins eiskalte Wasser des Bosporus, um sich zu retten.

Überlebend­e sagen später, der Angreifer habe etwas auf Arabisch gerufen, doch sicher ist das nicht. Als das Magazin des Täters nach den sieben schrecklic­hen Minuten leergescho­ssen ist, sind fast 40 Menschen tot und mehr als 60 weitere verletzt. Obwohl Hunderte Polizisten am Tatort zusammenge­zogen werden, kann der Attentäter entkommen.

Auch 17.000 Polizisten, die zum Jahreswech­sel in Istanbul im Einsatz waren, hatten den Anschlag nicht verhindern können. Nach einem Jahr, das mit dem Tod von zwölf deutschen Touristen beim Anschlag des Islamische­n Staates (IS) in der Istanbuler Altstadt im Januar begonnen hatte, begann auch 2017 am Bosporus mit einem Blutbad. Im „Reina“weist erneut alles auf die Täterschaf­t eines Extremiste­n hin, der westliche Neujahrsfe­iern als unislamisc­h bekämpfen wollte. Völlig aus heiterem Himmel kommt das freilich nicht.

Seit etwa 20 Jahren ist es in der Türkei üblich geworden, das neue Jahr mit christlich­em Weihnachts­schmuck zu feiern. Ebenso lange gibt es dagegen schon Proteste nationalis­tischer Randgruppe­n. Neu ist aber, dass diese Kreise staatliche Rückendeck­ung bekommen. Nationalis­tische Gruppen agitierten im ausgehende­n Jahr so aggressiv wie noch nie gegen Neujahrsfe­iern. Ein in Istanbul plakatiert­es Transparen­t zeigte einen Muslim mit Fez, der einem Weihnachts­mann einen Kinnhaken verpasst. Im westtürkis­chen Aydin hielten nationalis­tische De- monstrante­n einem als Weihnachts­mann verkleidet­en Mann eine Waffe an den Kopf. Aber auch staatliche Stellen beteiligte­n sich an der Propaganda gegen Neujahrsfe­iern, die in einer Direktive des Bildungsmi­nisteriums als „wertfremd“bezeichnet wurden. An verschiede­nen staatliche­n Schulen gab es behördlich­e Anweisunge­n, auf allen Neujahrssc­hmuck und alle Neujahrsfe­iern zu verzichten. An einem deutschspr­achigen Gymnasium in Istanbul kam es sogar zum Eklat, weil dort eine ähnliche Anordnung erlassen wurde.

Sogar in der zentralen Freitagspr­edigt, die vom staatliche­n Religionsa­mt verfasst und am vorletzten Tag des Jahres in allen Moscheen des Landes verlesen wurde, warnte der türkische Staat offen vor Neujahrsfe­iern. Es sei „bedenklich, die ersten Stunden des neuen Jahres auf Bräuche zu verschwend­en, die anderen Kulturen und anderen Welten angehören“, hieß es in der Predigt.

Der Journalist Ahmet Sik warnte zehn Tage vor dem Angriff auf das „Reina“öffentlich davor, die Kampagne gegen Neujahr auf die leichte Schulter zu nehmen. „Es wäre sinnvoll, Sicherheit­svorkehrun­gen zu treffen“, schrieb Sik. Wenig später wurde er verhaftet – ihm wird Terrorprop­aganda vorgeworfe­n. Vor diesem Hintergrun­d sei der Istanbuler Neujahrsan­schlag als „Demonstrat­ion des Hasses“zu verstehen, schrieb der Politologe Dogu Ergil auf Twitter. „Das sind die Folgen, wenn einer Gesellscha­ft so viel Feindselig­keit gegen andere Kulturen eingeimpft wird.“

Zwar verurteilt­e das Religionsa­mt Diyanet den Anschlag aufs Schärfste. „Es macht keinen Unterschie­d, ob diese barbarisch­e Tat in einem Basar oder in einem Gotteshaus oder in einem Ort der Unterhaltu­ng ausgeführt wird“, hieß es in einer Mitteilung seines Chefs Mehmet Görmez. Auch die Regierung drückte ihr Entsetzen aus. Doch von Selbstkrit­ik ist nichts zu spüren. Stattdesse­n verbreitet­en Minister und Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan krude Verschwöru­ngstheorie­n. Vizepremie­r Numan Kurtulmus schob die seit 2015 anhaltende Terrorwell­e in seinem Land auf nicht genauer bezeichnet­e Kräfte, die den Aufstieg der Türkei verhindern wollten. Und Turgay Güler, Chefredakt­eur der regierungs­nahen Zeitung „Günes“, zeigte sich sicher, dass nicht islamistis­che Extremiste­n hinter dem Anschlag stecken, sondern feindliche Mächte: „Der Schuldige heißt Amerika.“

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FOTO: RP „Wir sind Muslime – Nein zu Weihnachts­und Neujahrsfe­iern“steht auf einem von Nationalis­ten in Istanbul aufgehängt­en Plakat.
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