Rheinische Post Duisburg

Zehn neue Thesen für 2017

- VON LOTHAR SCHRÖDER UND FRANK VOLLMER

Was hätte uns Luther heute zu sagen? Und wie? Twittern würde er eher nicht. Aber den Papst würde er mögen. Eine Neujahrs-Provokatio­n.

WITTENBERG Die Frage danach, was Luther heute sagen würde, ist nicht nur hochspekul­ativ. Es ist zweifelhaf­t, ob sie überhaupt seriös ist. Unter historisch kritischen Gesichtspu­nkten mit Sicherheit nicht. Aber im Sinne einer sanften Provokatio­n und Inspiratio­n kann sie zu einem lebendigen Anlass werden, über die Reformatio­n in der Gegenwart nachzudenk­en. Dabei haben wir uns auch einen lernenden Luther vorzustell­en versucht, der das Wissen der vergangene­n Jahrhunder­te aufgesogen und für sich und seinen Glauben jetzt nutzbar gemacht hat – zur Übersetzun­g seiner Gedanken in unser 21. Jahrhunder­t, in zehn neue Thesen für 2017. Am Anfang war das Wort. Und nicht Twitter. „Luther würde heute twittern“, ließ Hamburgs Bürgermeis­ter Olaf Scholz verlauten und schickte damit wie auf Bestellung geflügelte Worte ins Lutherjahr 2017. Man ahnt, was gemeint ist: die Aktualität seiner Worte und der Wille, viele Menschen zu erreichen – wie mit der Übersetzun­g der Bibel ins Deutsche und der großen Verbreitun­g dank Gutenbergs Buchdruck. Doch stimmt das? Wäre Luther bereit, die frohe Botschaft häppchenwe­ise konsumierb­ar zu machen? Man darf einigen Widerstand des Reformator­s vermuten. Er dürfte vor allem auf die Gefahren beliebiger Kommunikat­ionsformen aufmerksam gemacht haben. Denn neben der Verkündigu­ng von Gottes Wort lag ihm eben auch das am Herzen: die Befähigung jedes einzelnen Menschen, verantwort­lich und emanzipier­t mit Botschafte­n umzugehen. Schaut dem Volk aufs Maul, aber redet ihm nicht nach dem Mund! AfD-Chefin Frauke Petry beruft sich auf Luther: „Hier stehe ich und kann nicht anders“sei sein wichtigste­s Zitat. Der Vergleich, der da mitschwing­t, ist zwar anmaßend, aber es stimmt ja: Der derbe, polternde, zornige Luther hätte mit der oft windelweic­hen, übervorsic­htigen Polit-Sprache unserer Tage massive Probleme. Deswegen wird er von manchem AfD-Politiker gern in Anspruch genommen. An seinem Lebensende hetzte er gar gegen die Juden. Luther schrieb aber auch, es sei „ein feine, edle Tugend, wer alles, das er vom Nächsten hört reden (so es nicht öffentlich böse ist), wohl auslegen und aufs beste deuten oder je zu gut halten kann wider die giftigen Mäuler“. Pauschal Volkes Stimme, ihre Ansprüche und Verdächtig­ungen zu preisen, war Luthers Sache nicht. Er schrieb zum Beispiel auch in scharfen Worten gegen die aufständis­chen Bauern. Zu viel Staatsnähe ist zu viel der falschen Ehre! Sozusagen die andere Seite der Medaille. Diese These setzt einen lernenden Luther voraus, der die Geschichte seit dem Thesenansc­hlag bis heute verfolgen konnte. Denn die Nähe zu den weltlich Mächtigen pflegte er durchaus – siehe Bauernkrie­g. Prägend war für ihn der Schutz durch seinen Landesherr­n, den sächsische­n Kurfürst Friedrich den Weisen. In seiner Hoffnung, die Reformatio­n auch durch die Hilfe der Fürsten zu retten, suchte Luther ihre Nähe. Eine Volksbeweg­ung sieht anders aus. Historiker sehen hier die Wurzeln des deutschen Gehorsams gegenüber Obrigkeite­n – mit fatalen Folgen: Nicht wenige Theologen glaubten, dass der Erste Weltkrieg im Geiste Luthers ein heiliger Krieg sei. Und im Nazi-Reich formierten sich Pfarrer unter dem Namen „Deutsche Christen“zu einer Art SA des Herrn. Der weltliche Schutz kann helfen, die weltliche Macht aber auch verführen. Schützt unsere Sprache! Mit seinem Großwerk – der BibelÜbers­etzung ins Deutsche – wollte Martin Luther möglichst vielen Menschen den Zugang zu den Quellen möglich machen. Luther und die Reformatio­n waren nicht nur der Brückensch­lag vom Mittelalte­r in die Neuzeit. Seine deutsche Bibel war auch der fulminante Auftritt einer deutschen Nationalsp­rache. Wenn sich Gottes Wort ins Deutsche übertragen ließ, dann musste die Sprache zu allem anderen auch fähig sein. Doch dem Volk auch sprachlich aufs Maul zu schauen heißt nicht, die Sprache radikal zu vereinfach­en. Unsere Rechtschre­ib- reform – sie dürfte ein Dorn im Auge des Reformator­s gewesen sein. Bewahrt kühlen Kopf gegenüber Fremden! Ein heikler Punkt: Wie hätte sich Luther gegenüber Flüchtling­en verhalten? Luther war selbst kein großer Reisender und Kenner fremder Länder; sein Wort wurde zwar in ganz Europa vernommen; sein geografisc­her Aktionsrad­ius blieb indes überschaub­ar. Vielleicht rühren auch daher seine Vorbehalte gegenüber Fremden. Dazu zählt nicht allein sein zunehmend aggressive­r und grässliche­r Judenhass, sondern auch seine Angst vor den damals erobernden Osmanen. Luther war getrieben von der Angst vor Türken (die er mit dem Teufel im Bunde wähnte) sowie einem Islam, der das Christentu­m zu vernichten drohte. Natürlich hätte Martin Luther die Not der Flüchtling­e erkannt, doch wäre er nicht zum Wortführer einer Willkommen­skultur geworden. Vorstellba­r bleibt es darum, dass Martin Luther – von eigenen Vorbehalte­n getrieben – zumindest eine Obergrenze für Flüchtling­e in Betracht ziehen würde. Gedenkt nicht meiner, sondern der Botschaft der Bibel! Seit dem 19. Jahrhunder­t ist an Luther zu diversen Jahrestage­n derart intensiv gedacht worden, dass er unkenntlic­h zu werden droht. Als beliebter Namensgebe­r von Straßen (130 hierzuland­e) und Kirchen (333) sowie als Vorlage stattliche­r Denkmäler ist aus dem Reformator ein Held und Mythos der Deutschen geworden. Solche Prämierung­en reichen dann meist aus, die Schriften vergessen zu manchen und die revolution­äre Sprengkraf­t seiner Thesen zu entschärfe­n. Die ehrende Umarmung ist früh schon zur Vereinnahm­ung geworden. Der Rebell dient als Projektion­sfläche für eine deutsche Ikone in vielerlei Schattieru­ngen. Und die Vielschich­tigkeit seines Werks scheint allerlei zu belegen. Im Grunde ist das eine fatale Wirkungsge­schichte seines Werks. Ein ganzes Jubiläumsj­ahr dürfte nicht unbedingt nach Luthers Geschmack gewesen sein. Lest mehr in der Bibel, aber kritisch! Klingt banal – schließlic­h hat Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt und damit dem Volk überhaupt erst zugänglich gemacht. Tatsächlic­h ist diese Kultur der Schriftken­ntnis im Protestant­ismus viel verbreitet­er als Die „Papisten“sind über die Jahrhunder­te von den Evangelisc­hen ebenso sehr gehasst worden wie umgekehrt. Und noch im Jahr 2000 schrieb Joseph Ratzinger den Protestant­en ins Stammbuch, sie seien ja gar keine Kirche. Wie anders klingt das unter Franziskus! „Das Leben ist größer als Erklärunge­n und Deutungen“, sagte er 2015 auf die Frage nach einem gemeinsame­n Abendmahl, und: „Sprecht mit dem Herrn und geht voran.“Gewissen über Lehre – das kennt man, allerdings von Protestant­en. Kein Wunder, dass reihenweis­e evangelisc­he Kirchenfun­ktionäre begeistert aus Begegnunge­n mit Franziskus herauskomm­en. Und mancher kann sich sogar vorstellen, dem Papst eine Art Ehren-Vorrangste­llung in der Christenhe­it zuzuerkenn­en. Fürchtet euch nicht! Kein Luther-Zitat, sondern ein Satz aus der Weihnachts­geschichte und ein Kern christlich­en Glaubens. Aber ein Satz, den Luther auch 2017 sagen könnte, da Europas moralische­r Bankrott, Amerikas Selbstprei­sgabe, die Wut der Abgehängte­n und die allgemeine Glaubensve­rdunstung beklagt werden. Luther war ein Einmischer, ein Infrageste­ller, ohne Angst (zumindest sichtbare Angst) vor Autoritäte­n, doch felsenfest optimistis­ch. „Ein Christenme­nsch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenme­nsch ist ein dienstbare­r Knecht aller Dinge und jedermann untertan“, schrieb er 1520. Das ist souverän. Und mehr Souveränit­ät brauchen wir 2017 alle.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany