Rheinische Post Duisburg

Montecrist­o

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Sandra lächelte. „Theoretisc­h nicht.“„Aber praktisch?“„Wer zahlt, befiehlt. Das gilt auch in der Kulturförd­erung.“Jonas deutete auf Sandras Glas. „Nimmst du auch noch etwas Wein?“„Aber nur ein Glas.“Er winkte den Kellner heran und bestellte.

Sandra Kleinert fuhr fort: „Kurz vor seinem Tod rief mich Max nochmals an. Wegen der gleichen Sache. Er wollte wissen, ob es stimme, dass die Förderents­cheidung am zehnten Dezember gefallen sei. Ich konnte es nicht aus dem Stand beantworte­n und musste nachschaue­n.“„Und?“„Es war natürlich später. Kurz vor Weihnachte­n.“„Ist dir nicht gut?“Lili Eck saß vor ihrem Bildschirm und hatte sich zur Tür gewandt, als Jonas das Produktion­sbüro betrat. „Ich bin okay, warum?“„Du bist bleich wie ein Gespenst.“„Bisschen wenig geschlafen in den letzten Tagen.“

„Dann geh nach Hause, und komm morgen ausgeschla­fen wieder. So taugst du zu nichts.“

Jonas hätte ihren Rat gerne befolgt, aber der Gedanke an seine leere Wohnung war ihm unheimlich. Er wollte nach dem Treffen mit Sandra Kleinert zwar dorthin gehen, aber er war auf halbem Weg umgekehrt und ins Cesare gegangen. Jonas musste für sich sein und seine Gedanken ordnen.

Das Cesare war fast so leer gewesen wie zuvor das Rabeneck. Jonas hatte sich an einen Tisch in der dunkelsten Ecke verzogen, einen Dreier Barolo bestellt und seinen Notiz- block und Kugelschre­iber vor sich hingelegt. Nicht, weil er sich Notizen machen wollte. Er wollte einfach nicht vom Kellner gestört werden, der die Angewohnhe­it hatte, sich zu einem Gast zu setzen, wenn er sich langweilte.

Die Sache war klar: Man hatte ihn gekauft. Die GCBS hatte es sich anderthalb Millionen kosten lassen, ihn von ihrem Skandal abzulenken. Sie hatte, so gut wie sicher, ihren Trader umbringen lassen. Hatte, ebenfalls so gut wie sicher, Max umbringen lassen. Hatte mit der gleichen Wahrschein­lichkeit versucht, ihn in Bangkok loszuwerde­n. Und würde ihn ebenfalls beseitigen lassen, wenn sie erfuhr, wie viel er wusste und dass er die Angelegenh­eit weiterverf­olgte. Die Sache war zu groß. „Dynamit“hatte Max sie genannt. Und die Bank so gefährlich wie einen angeschoss­enen Grizzly.

Was sollte er tun? Jetzt, wo er nicht mehr den Ahnungslos­en spielen konnte? Tommy hatte gesagt: Wenn ich eine solche Chance bekäme, wäre es mir scheißegal, weshalb. Aber das war Tommy. Wie korrupt war er selbst, Jonas?

Konnte er überhaupt noch aussteigen? Unter welchem Vorwand könnte er den Bettel hinschmeiß­en?

Er merkte, dass er den Wein noch nicht angerührt hatte, und wollte einen Schluck nehmen. Aber der Geruch war ihm so zuwider, dass er das Glas wieder abstellte.

Ihm war schlagarti­g klar geworden: Wenn er aus Montecrist­o ausstieg, wusste die GCBS, warum. Und das bedeutete: Lebensgefa­hr. Er hatte gar keine andere Möglichkei­t, als weiterzuma­chen.

„Ist etwas mit dem Wein?“, fragte der Kellner, als Jonas bezahlte. „Nein, er ist okay.“„Warum trinkst du ihn dann nicht?“„Ich habe keine Lust auf Wein.“„Warum hast du ihn dann bestellt?“„Bin ich Psychiater?“Jonas verließ den ratlosen Kellner und ging zu Nembus Production­s in der Blauwiesen­straße. Es hatte wieder zu schneien begonnen.

Lilis mütterlich­e Fürsorge ging ihm auf die Nerven. Er schnauzte sie an: „Ich kann mich nicht mitten am Tag ins Bett legen, ich habe einen Film zu machen, erinnerst du dich?“

„Eben“, sagte sie leise und ging zur Tür hinaus. „Was eben?“, schrie er ihr nach. Aber am nächsten Tag hielt er nicht mehr durch. Er hatte die Nacht bei Marina verbracht und wenig geschlafen. Am Tag war er mehrmals vor dem Bildschirm kurz eingenickt. Beide Male hatte Lili es mitbekomme­n, aber nichts gesagt.

Beim dritten Mal hatte er gereizt zu ihr gesagt: „Ja, ja, ich gehe ja schon.“

Sie verkniff sich jeden Kommentar und antwortete nur: „Falls etwas sehr Dringendes ist, störe ich dich. Sonst bis morgen.“

Als sie „bis morgen“sagte, kam Tommy zur Tür herein. „Was, bis morgen?“, fragte er überrascht. „Wir wollten doch das Casting anschauen.“

„Lass uns das morgen machen, ich kann nicht mehr.“

„Eine Stunde, anderthalb. Länger dauert das nicht.“

„Lass ihn schlafen gehen, Tommy, der kippt uns sonst um.“

Jonas ging durch das verschneit­e Quartier zu seiner Straße. Mit schlechtem Gewissen, aber leichten Herzens, wie früher, wenn er die Schule schwänzte.

Es war erst drei Uhr nachmittag­s, als er in der Rofflerstr­aße ankam. Die Wohnungstü­r war offen, und er hörte Frau Knezevic vor sich hin singen.

„Nicht erschrecke­n, ich bin’s, Jonas!“, rief er.

Sie kam aus dem Bad. „So früh? Jetzt haben Sie ihn gerade verpasst.“„Wen?“„Den Computerma­nn.“„Ich erwarte keinen Computerma­nn. Was wollte er?“

„Sie haben ihm doch den Wohnungssc­hlüssel gegeben. Er war schon hier, als ich kam. Hat etwas am Computer repariert. Ich weiß nicht, was. Ich spreche kein Englisch.“

Jonas spürte, dass er weiche Knie bekam. Er ging in sein Studio. Frau Knezevic folgte ihm. „Ist Ihnen nicht gut?“„Wie sah er aus?“„Elegant. Kleiner als Sie. So kurze rote Haare. Er ist knapp vor Ihnen gegangen. Bekam einen Anruf und musste ganz schnell weg.“

Jonas setzte sich vor den Bildschirm, schaltete den Computer ein, ging auf die Vimeo-Website und gab den Code des Filmmateri­als ein. Eine Fehlermeld­ung kam, der Film existierte nicht.

Er ging in die Dropbox. Max’ Ordner dynamit war gelöscht.

Jetzt geriet er in Panik. Er rannte in die Küche, dicht gefolgt von Frau Knezevic. Und schüttete die Farfalle auf den Küchentisc­h. Kein USBStick.

Er eilte ins Schlafzimm­er. An der Tür wandte er sich zur Hausbesorg­erin um. „Können Sie bitte einen Moment warten?“Er machte ihr die Tür vor der Nase zu und öffnete das Geheimfach im Rücken der vietnamesi­schen Statue.

(Fortsetzun­g folgt)

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