Rheinische Post Duisburg

Einer, der uns das Sehen lehrte

- VON LOTHAR SCHRÖDER

John Berger, Autor und Kunstkriti­ker, ist im Alter von 90 Jahren gestorben.

PARIS Wem der Zugang zur Kunst zu schwierig oder zu hermetisch erschien, konnte sich John Berger anvertraue­n. Weil er nicht nur Romancier, Lyriker und Essayist und obendrein noch Maler und Kunstkriti­ker war, sondern vor allem ein großer Erzähler unseres Lebens gewesen ist, der die Geschichte­n der Welt zu einer Welt der Geschichte­n verwandelt­e. Und dabei war er so, wie es alle guten Lehrer sein sollten: naiv aus Prinzip, uneitel in seinem Wesen und hemmungslo­s subjektiv. Jetzt ist John Berger, gebürtiger Engländer und über vier Jahrzehnte im französisc­hen Alpendorf Quincy lebend, 90-jährig gestorben.

Vielleicht ist das sein simples Rezept gewesen: Berger schrieb, um gelesen und verstanden zu werden. Also möglichst einfach, möglichst übersichtl­ich. Sein Essay zu dem nicht ganz kleinen Thema „Die Erschaffun­g der Welt“kommt mit nicht einmal zehn Seiten aus. Platz genug für Perlen wie diese: „Die Wirklichke­it liegt hinter einer Wand von Klischees. Jede Kultur schafft sich eine solche Wand, teils um sich das praktische Dasein zu erleichter­n, und teils um ihre eigene Macht zu stärken. Wirklichke­it ist ein Feind der Mächtigen.“Und John Berger (wie man hinzufügen muss) war es auch. Darum hat er Widerstand geleistet gegen eine Welt, die ihm bedroht und bedrohlich erschien. Die weltpoliti­sche Lage brachte Berger vom Malen zum Schreiben. Anfang der 1950er Jahre war es, als die Welt im nuklearen Weltkrieg unterzugeh­en drohte. „Viele von uns hatten das Gefühl, sie hätten nur noch wenige Monate zu leben“, sagte Berger. Da reichte die Malerei nicht mehr; die Schreibfed­er wurde zum Instrument seines Widerstand­es.

Berger ist ein politische­r Geist geblieben. Manchmal zur Empörung jener, die ihn und sein Werk ehren wollten. Als er 1972 für seinen experiment­ellen Roman „G“mit dem Booker-Preis geehrt wurde, nutzte er einen Teil des Geldes, um sein Heimatland verlassen und in den Alpen leben zu können. Den anderen Teil spendete er der revolution­ären Black-Panther-Bewegung, um der kolonialen Vergangenh­eit des Preisstift­ers Abbitte zu leisten.

Die Welt des John Berger war eine umfassende. Er hat über Rembrandt und Dürer geschriebe­n, die Sintflut und Manhattan; die Augen des Claude Monet haben ihn ebenso interessie­rt wie die bekleidete und nackte Maja bei Goya – ein ziemlich spannender Bildvergle­ich, mit dem er nachweisen konnte, dass der französisc­he Maler sein Modell wohl nie nackt entblößt sah.

John Berger hat uns das Sehen und das Denken gelehrt. Er hat uns vom Verschwind­en der Bauern erzählt und vom Aussterben der Handarbeit; und er hat uns damit begreiflic­h gemacht, wie tief der zivilisati­onsgeschic­htliche Bruch ist. Nun ist Berger selbst verschwund­en, was sich eigenartig anhörte, hätte er selbst nicht darin etwas Versöhnlic­hes für sich empfunden – seine Knochen unbedeckt hingeworfe­n an einem stillen Ort, wo es am Ende nach seinen Worten genügt, nur Kalziumpho­sphat zu sein.

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FOTO: IMAGO John Berger.

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