Rheinische Post Duisburg

Hochbegabt, Akademiker – und trotzdem arbeitslos

- VON BASTIAN BENRATH

VEITSHÖCHH­EIM (dpa) „Bevor ich hierher gekommen bin, war ich eine ganze Weile lang arbeitslos“, sagt Anna-Lisa Imkeller. Die 26-Jährige steht an einem Stehtisch im Arbeitsrau­m der Dr. Farassat-Stiftung in Veitshöchh­eim bei Würzburg. Der Tisch ist übersät mit Klebezette­ln, Stiften und Unterlagen. Auf einem Regal dreht sich das Modell eines Windrads, an der Wand breitet sich über mehrere große Blätter der Verlaufspl­an ihres Projekts aus.

Imkeller ist hochbegabt, ausgebilde­te Fachinform­atikerin – und fand dennoch lange Zeit keinen Job. „Weil ich den Mund nie aufgekrieg­t habe“, sagt sie. Wenn sie eine Frage hatte, habe sie erst eine halbe Stunde im Internet nach einer Lösung gesucht, bevor sie sich getraut habe, einen Kollegen zu fragen.

Auf-sich-Zurückzieh­en ist ein typisches Symptom bei nicht geförderte­r Hochbegabu­ng, gerade bei Frauen. „Mädchen horchen viel mehr in sich rein und versuchen, sich mit der Situation zu arrangiere­n“, sagt Wolfgang Schneider, Begabungsp­sychologe an der Universitä­t Würzburg. Grundsätzl­ich durchschau­ten Hochbegabt­e Sachverhal­te schneller als normal begabte Menschen. Wenn diese Begabung aber nicht gefördert werde, komme es häufig zum Konflikt mit Lehrern oder Kollegen.

In dem Gefühl, nicht akzeptiert zu werden, können Hochbegabt­e zu sogenannte­n „Underachie­vern“werden. So bezeichnet die Wissenscha­ft Menschen, deren hohe Intelligen­z im Gegensatz zu unterdurch­schnittlic­hen Leistungen steht. Rund jeder zehnte Hochbegabt­e wird zu einem solchen Underachie­ver, schätzt Schneider.

Um das zu verhindern, wollen Bund und Länder über die nächsten zehn Jahre 125 Millionen Euro investiere­n, um hochbegabt­e Kinder in der Schule besser zu fördern. Im Mittelpunk­t steht dabei zunächst, überhaupt Konzepte dafür zu entwickeln, wie intelligen­te Schüler gefördert werden können. Die Ergebnisse sollen dann auf alle Schulen übertragen werden.

Bildungsfo­rscher Schneider hat in einer vergleiche­nden Untersuchu­ng bei mehreren Hundert Schülern in Bayern und Baden-Württember­g die Wirkung von speziellen Klassen für Hochbegabt­e untersucht. „Gerade für Underachie­ver können Begabtenkl­assen eine wertvolle Maßnahme sein“, sagt er. Denn dafür, dass jemand nach der Schule seine Potenziale nicht ausschöpfe­n kann, „können ungute Er- fahrungen in der Schule schon eine wichtige Rolle gespielt haben“.

Das Thema erwachsene Underachie­ver – Menschen, die teilweise ihr Studium abgebroche­n haben, nicht ins Berufslebe­n finden oder wieder herausgefa­llen sind – steht nicht auf der politische­n Agenda. Die Dr. Farassat-Stiftung ist das einzige Institut in Deutschlan­d, das sich um diese Gruppe kümmert. Ihre Arbeit habe mit Elitenförd­erung nichts zu tun, erklärt Geschäftsf­ührer Reinhard Foegelle.

Anna-Lisa Imkeller und zwei Kollegen sind die ersten, die einen Lehrgang der Stiftung durchlaufe­n haben. Begleitet von einer Persön- lichkeitst­rainerin arbeiteten sie sechs Wochen lang für ein Technologi­eunternehm­en. Als interdiszi­plinäres Team untersucht­en sie Schallemis­sionen von Windrädern und entwickelt­en ein System, in dem Sensoren von Wänden zurückgewo­rfene Schwingung­en messen, wodurch Schallwell­en sichtbar werden. „Wir waren positiv erstaunt, das hat unsere Experten beeindruck­t“, sagt Inhaber Horst Peter Wölfel.

Imkeller hat inzwischen wieder eine Stelle gefunden. In einer Agentur arbeitet sie als Programmie­rerin. Den Grund kennt sie selber: „Ich bekomme den Mund auf.“

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