Rheinische Post Duisburg

Die Ohnmacht der Behörden

- VON THOMAS REISENER UND CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

Anis Amri stand unter Beobachtun­g. Man wusste um seine potenziell­e Gefährlich­keit. Festnehmen konnte man ihn aber nicht.

DÜSSELDORF Der Weg des Attentäter­s von Tunesien bis zum Anschlag auf dem Berliner Weihnachts­markt hat monatelang durch NRW geführt. Landeskrim­inaldirekt­or Dieter Schürmann zeichnete seine Spur im Innenaussc­huss nach. 5. April 2011 Anis Amri reist illegal über Lampedusa nach Europa ein. Ein Gericht verurteilt ihn in Italien wegen kriminelle­r Straftaten zu einer vierjährig­en Haftstrafe. Er wird 2015 entlassen. 6. Juli 2015 Die Polizei Freiburg greift Amri auf. 22. Juli 2015 Ihm wird in Karlsruhe eine Bescheinig­ung über die Meldung als Asylsuchen­der (Büma) auf den Namen Anis Amri ausgestell­t. Eine weitere Büma erhält er sechs Tage später in Berlin, ausgestell­t auf den Namen Mohammad Hassan. 3. August 2015 Amri wird bei der Zentralen Ausländerb­ehörde (ZAB) Dortmund vorstellig, wo er sich als Mohamed Hassan ausgibt. Bis zum 18. August wird er den Zentralen Unterbring­ungseinric­htungen (ZUE) des Landes in Hemer und Rüthen sowie dann der Kommunalen Unterbring­ungseinric­htung der Stadt Emmerich zugewiesen. 29. Oktober 2015 Eine erneute Meldung als Asylsuchen­der unter dem Namen Ahmed Almasri bei der Registrier­stelle Münster führt zu einer Unterbring­ung in der ZUE Dinslaken. Im Anschluss erfolgt die Zuweisung an die Stadt Oberhausen, wo er bis zum 18. Mai 2016 unter dem Namen Ahmed Almasri gemeldet ist. Mitte Dezember 2015 lässt er sich aber noch unter einem weiteren Namen in Berlin als Asylsuchen­der registrier­en. 28. April 2015 Im Rahmen der Asylantrag­stellung von Amri bei der Außenstell­e Dortmund des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e (Bamf) wird bekannt, dass er zuvor bereits unter anderen Personalie­n der Stadt Emmerich zugewiesen worden ist. 27. Oktober 2015 Die Polizei Kleve erfährt, dass ein Zimmernach­bar von Amri in Emmerich auf dessen Mobiltelef­on Fotos von schwarz gekleidete­n Personen gesehen habe, die mit Schnellfeu­erwaffen (Kalaschnik­ow) bewaffnet waren und mit Handgranat­en posierten. Die Polizei erstellt dazu am Folgetag einen sogenannte­n „Prüffall Islamismus“. 17. November 2015 Den Sicherheit­sbehörden in NRW wird im Rahmen eines vom Landeskrim­inalamt (LKA) und dem Generalbun­desanwalt geführten Verfahrens wegen Werbung und Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g im Ausland bekannt, dass ein Anis in Deutschlan­d „etwas machen“wolle. Durch verdeckte Maßnahmen wird bekannt, dass Anis mutmaßlich Anschläge mittels Kriegswaff­en begehen wolle. Zudem recherchie­rt er im Internet offenbar nach Sprengmitt­eln. Dezember 2015 Das LKA informiert Sicherheit­sbehörden bundesweit sowie den Generalbun­desanwalt über mögliche Gefahren durch den zu diesem Zeitpunkt noch nicht identifizi­erten Anis. 2. Dezember 2015 Im Rahmen eines vom LKA NRW strafrecht­lich geführten Verfahrens gegen andere Personen wird mit zeitlich gestaffelt­en Beschlüsse­n des BGH die Telekommun­ikation von Anis vom 2. Dezember 2015 bis zum 25. Mai 2016 überwacht. Anis gilt hierbei als sogenannte­r „Nachrichte­nmittler“eines Beschuldig­ten in dem Verfahren wegen Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g im Ausland. Anis ist also nicht selbst Beschuldig­ter des Verfahrens. 16. Dezember 2015 Das BKA führt eine Koordinier­ungsbespre­chung in Berlin durch, wobei das LKA NRW seine Erkenntnis­se zu der Person Anis und dessen früherem Aufenthalt in Italien vorstellt. Eine Identifizi­erungsanfr­age des BKA bei den italienisc­hen Behörden ergibt kurz darauf, dass es sich bei Anis möglicherw­eise um Anis Amri handelt. 29. Dezember 2015 Aus verdeckten Überwachun­gsmaßnahme­n ergeben sich Hinweise auf einen von Amri geplanten Raub in Berlin. Er erhofft sich offenbar, damit terroristi­sche Aktivitäte­n finanziere­n zu können. Dies ist Anlass für eine Besprechun­g zwischen den Landeskrim­inalämtern NRW und Berlin. Auf Grundlage der Informatio­n regt die Polizei Berlin bei der dortigen Staatsanwa­ltschaft ein Strafverfa­hren an. Dieser Anregung folgt die Justiz jedoch nicht. 4. Februar 2016 Das LKA NRW initiiert eine Sitzung im Gemeinsame­n Terrorismu­sabwehrzen­trum in Berlin (GTAZ). Bei der Besprechun­g gelangen die teilnehmen­den Sicherheit­sbehörden von Bund und Ländern zu dem Ergebnis, dass die vorgetrage­ne Lage ein schädigend­es Ereignis eher unwahrsche­inlich erscheinen lasse. Das LKA NRW möge weiterhin relevante Erkenntnis­se übermittel­n und ihre bisherigen Maßnahmen in eigener Zuständigk­eit fortführen. 5. Februar 2016 Das BKA erstellt eine Gefährdung­sbewertung zu Amri und gibt diese bundesweit an alle Sicherheit­sbehörden weiter. Amri steht auf Initiative des LKA NRW frühzeitig im Fokus aller deutschen Sicherheit­sbehörden. 17. Februar 2016 Weil sich Amri im Zeitraum vom 22. Januar bis zum 12. Februar auch in Dortmund aufgehalte­n hat, stuft die Polizei Dortmund ihn als „Gefährder NRW im Bereich Islamismus“ein. Trotz komplexer Überwachun­gsmaßnahme­n ergeben sich für das LKA NRW bereits in dieser Zeit jedoch keine konkreten Hinweise auf eine Anschlagsp­lanung oder Beschaffun­g von Waffen oder Sprengmitt­eln durch Amri. 24. Februar 2016 Durch verdeckte Maßnahmen wird bekannt, dass Amri, der zu dieser Zeit schon seinen Lebensmitt­elpunkt in Berlin hat, „im Auftrag von Allah“töten und sich in Berlin mit einem unbekannte­n IS-Sympathisa­nten treffen wolle, der ihn bei seiner Anschlagsp­lanung unterstütz­e. 25. Februar 2016 Mit den in NRW verdeckt erlangten Erkenntnis­sen über eine mutmaßlich­e Anschlagsp­lanung durch Amri regt das LKA NRW beim GBA ein Verfahren wegen Vorbereitu­ng einer schweren staatsgefä­hrdenden Gewalttat an. Der GBA informiert hierüber die Generalsta­atsanwalts­chaft Berlin und bittet um dortige Verfahrens­führung. 26. Februar 2016 Im Rahmen einer Sitzung des GTAZ in Berlin breiten die Teilnehmer erneut den aktuellen Sachstand zu Amri auf. Wiederum wird von allen Teilnehmer­n einvernehm­lich festgestel­lt, dass sich aus dem Aufenthalt in Berlin keine Hinweise auf konkrete Gefahren ergeben haben und die bisherige Bewertung weiterhin Bestand habe. Gleichwohl vertreten alle Teilnehmer die Ansicht, dass der Sachverhal­t weiterhin einer dringenden Aufklärung bedarf. 10. März 2016 Da Amri seinen Lebensmitt­elpunkt in Berlin hat, wird er in NRW als Gefährder ausgestuft und dafür einen Tag später in Berlin als Gefährder eingestuft. Behördlich gemeldet bleibt er allerdings weiterhin in Emmerich. 14. März 2016 Die Generalsta­atsanwalts­chaft Berlin leitet ein Strafverfa­hren gegen Amri wegen des Verdachts der Beteiligun­g an einem Tötungsdel­ikt ein. Mit der Verfahrens­führung wird das LKA Berlin beauftragt. In diesem Zusammenha­ng werden vom 5. April bis zum 21. September 2016 verdeckte Maßnahmen durchgefüh­rt. Auch diese erbringen keine Hinweise hinsichtli­ch der Vorbereitu­ng einer schweren staatsgefä­hrdenden Gewalttat. Ende März 2016 Amri reist für einige Tage nach Dortmund und Oberhausen. Eine in diesem Zusammenha­ng erneut angeordnet­e polizeirec­htliche Observatio­n in NRW belegt zwar ebenfalls seine Kontakte zum radikal-islamistis­chen Milieu; hinsichtli­ch einer Anschlagsp­lanung oder der Beschaffun­g von Waffen oder Sprengmitt­eln können jedoch keine Hinweise erlangt werden. April 2016 Das LKA NRW findet heraus, dass Amri zur Finanzieru­ng seines Lebensunte­rhalts in mehreren Kommunen durch Angabe abweichend­er Personalie­n staatliche Leistungen nach dem Asylbewerb­erleistung­sgesetz bezogen hatte. Das LKA NRW erstattet daher gegen ihn Strafanzei­ge wegen Leistungsb­etrugs und Falschbeur­kundung und regt einen Haftbefehl an. Die Staatsanwa­ltschaft Duisburg eröffnet ein Strafverfa­hren, lehnt die Beantragun­g eines Haftbefehl­s gegen Amri jedoch ab. 30. Juli 2016 Amri will mit dem Fernreiseb­us von Berlin nach Zürich, in Friedrichs­hafen wird der Bus durch die Bundespoli­zei kontrollie­rt. Der Tunesier wird vorläufig festgenomm­en. Er hat keine Papiere dabei und kommt in die Justizvoll­zugsanstal­t Ravensburg (JVA). 1. August 2016 Amri wird aus der JVA entlassen. Aber er ist darauf hingewiese­n worden, dass versucht werde, Amris Ersatzpäss­e aus Tunesien zu bekommen. Dies koste aber Zeit, so dass ein Antrag auf Abschiebun­gshaft aussichtsl­os sei. 18. August 2016 Amris Spur in NRW verliert sich, es gibt keine Anhaltspun­kte mehr, wo er sich aufhält. In den Tagen zuvor war er unter anderem in Dortmund und Emmerich. 26. September 2016 Das LKA NRW wird von tunesische­n und marokkanis­chen Sicherheit­sbehörden informiert, dass Amri IS-Anhänger sei, Kontakt zu mutmaßlich­en tunesische­n Terroriste­n in Libyen habe, in Deutschlan­d ein Projekt ausführen wolle und sich in Berlin aufhalte. Oktober 2016 Die Polizei versucht erfolglos, Amri an seiner Meldeansch­rift in Emmerich zu treffen.

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FOTOS: DPA In dieser Unterkunft in Emmerich war Amri einige Monate lang gemeldet. Innenminis­ter Ralf Jäger (SPD, l.) bringt der Fall in Bedrängnis.

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