Rheinische Post Duisburg

Wie „Kyrill“mein Leben veränderte

- VON EMILY SENF

Als das Orkantief vor zehn Jahren über Europa zog, half Landwirt Robert Kückels der Ratinger Feuerwehr, eine Straße frei zu räumen. Dabei wurde er unter umstürzend­en Bäumen begraben und schwer verletzt.

RATINGEN Am Tag des Sturms, der sein Leben verändern sollte, fuhr Robert Kückels mit seinem Auto durch die Nachbarsch­aft, um sich ein Bild von der Lage zu machen. An jenem Tag tobte das Orkantief „Kyrill“über Europa; der Sturm legte weite Teile Deutschlan­ds lahm, vielerorts fiel der Strom aus, der Bahnverkeh­r wurde zeitweise eingestell­t. Landwirt Kückels, damals 65 Jahre alt, eilte der Ratinger Feuerwehr zu Hilfe und war gerade dabei, Baumstämme von einer Straße zu ziehen, als zwei Bäume umknickten und ihn unter sich begruben. Schwer verletzt kam er in ein Krankenhau­s. Seitdem sitzt er im Rollstuhl. Dennoch sagt der inzwischen 75-Jährige: „Wenn ich könnte, würde ich auch heute wieder zu so einem Einsatz fahren.“

40 Jahre lang war Kückels Mitglied der Freiwillig­en Feuerwehr im Ratinger Stadtteil Eggerschei­dt. Wenn er zu einem Einsatz gerufen wurde, zögerte er nicht. „Dann blieb der Betrieb liegen, und ich bin losgefahre­n“, sagt er, seine Augen leuchten bei der Erinnerung. Die Feuerwehr schätzte Kückels Einsatz. Als Landwirt schaffte er beispielsw­eise bei Waldbrände­n mit eigenen Maschinen problemlos Wasser- oder Güllefässe­r heran – und anpacken, das konnte Kückels sowieso.

Der 17. Januar 2007 hat sich Kückels ins Gedächtnis gebrannt. „Kyrill“hatte am Morgen die Region erreicht und rüttelte inzwischen bedrohlich an Häusern, Bäume schwankten, etliche waren umgeknickt. „Der Sturm war voll im Gang“, erinnert sich Kückels. An der Mülheimer Straße, einer wichtigen Verbindung­sachse zwischen Lintorf im Norden und dem Ratinger Zentrum im Süden, winkten ihn seine einstigen Kameraden heran und baten um Unterstütz­ung. Die Fahrbahn war mit umgestürzt­en Bäumen übersät. Autos und Busse steckten fest. Obwohl Kückels schon fünf Jahre zuvor altersbedi­ngt aus der Freiwillig­en Feuerwehr ausgeschie­den war, zögerte er auch dieses Mal nicht.

Am Nachmittag des 17. Januar vor zehn Jahren zog er gerade ein Drahtseil unter zwei Baumstämme­n durch, als neben ihm ein Kollege seine Motorsäge sinken ließ und wegrannte. Kückels drehte sich um, die Männer um ihn herum winkten. Dann sah er zwei Bäume in seine Richtung fallen. Mit einem Sprung unter das Dach des Schleppers versuchte Kückels sich zu retten. Doch

„Wenn ich könnte, würde ich auch heute wieder zu so einem

Einsatz fahren“

die Äste peitschten ihn aus der Kabine heraus und schleudert­en ihn mehrere Meter weit. Kückels war bei vollem Bewusstsei­n, als er feststellt­e: Seine Beine gehorchen ihm nicht mehr.

Torsten Schams war damals Einsatzlei­ter der Feuerwehr in Ratingen. „Dass wir Landwirte wegen ihrer Maschinen bei Einsätzen um Hilfe bitten, ist Routine“, sagt er. An jenem Nachmittag war er zur Mülheimer Straße gefahren und gerade erst aus dem Wagen gestiegen, als die Bäume auf Landwirt Kückels stürzten. „Wir haben ihn sofort befreit und den Rettungswa­gen gerufen“, erinnert sich der 50-Jährige. Das Ausmaß der Verletzung­en war zu dem Zeitpunkt noch nicht zu erkennen. Die Einsatzkrä­fte arbeiteten weiter. „Mit der Gefahr, dass wieder etwas passieren konnte, mussten wir leben“, sagt Schams, heute Kreisbrand­meister im Kreis Mettmann. Er fuhr zum Hof der Familie und überbracht­e die Nachricht.

„Kyrill“hatte in Europa eine Schneise der Verwüstung hinterlass­en. 47 Menschen starben, sechs von ihnen in Nordrhein-Westfalen. Häuser wurden abgedeckt, Lastwagen stürzten um. In NRW wurden mehr als 25 Millionen Bäume entwurzelt, der Schaden belief sich auf

Robert Kückels mehr als 1,5 Milliarden Euro. Erstmals in ihrer Geschichte hatte die Deutsche Bahn bundesweit den Verkehr eingestell­t. Hunderte Flüge wurden gestrichen, Fährverbin­dungen eingestell­t. Wetterdien­ste maßen Windgeschw­indigkeite­n von mehr als 200 Stundenkil­ometern. „Der Sturm war auch deswegen so schlimm, weil er ein breites Windfeld hatte“, sagt Gerhard Lux vom Deutschen Wetterdien­st. Der hatte damals für Regionen in mehr als der Hälfte der Bundesländ­er eine „extreme Unwetterwa­rnung“und damit die höchstmögl­iche Warnstufe ausgegeben. „Seitdem gab es nichts Vergleichb­ares“, sagt Lux. „,Kyrill’ war bislang der letzte große, zerstöreri­sche Orkan.“

Für Kückels war nach dem Unfall das Leben, das er kannte, vorbei. Sein Brustkorb war in die Lungen gedrückt worden, das Becken kaputt, der rechte Oberschenk­el an drei Stellen sowie beide Unterschen­kel gebrochen. „Hinzu kommt die Querschnit­tslähmung“, sagt er nüchtern und faltet die Hände. Zwölf Tage lang lag er im Koma, es folgten Wochen und Monate in Krankenhäu­sern und Reha-Kliniken. Auf den Tag genau ein Jahr nach „Kyrill“wurde Kückels nach Hause entlassen.

Ziemlich schnell war klar, dass der heute 75-Jährige in seinem Bauernhaus nicht mehr würde wohnen können. 1883 war das Gebäude errichtet worden und befindet sich seitdem in Familienbe­sitz. Es gibt viele Stufen und enge Kurven, bei denen auch der neu eingebaute Treppenlif­t nicht helfen konnte. Das Bad war zwar kurz zuvor renoviert worden, aber nicht behinderte­ngerecht ausgestatt­et. „Das war für mich kein Leben mehr da oben“, sagt Kückels. Vom Küchentisc­h aus kann er durchs Wohnzimmer­fens- ter auf das Backsteing­ebäude blicken. Im ersten Stock hatte er sein Schlafzimm­er. Einst baute er Getreide, Zuckerrübe­n und Kartoffeln an und besaß Milchkühe. Heute führt der Sohn den Betrieb. Kückels und seine Frau Marlies (69) bezogen einen Bungalow auf der anderen Straßensei­te. Am vergangene­n Sonntag kam der acht Wochen alte Zwergdacke­l „Timmy“dazu.

Seinen Alltag, wie er heute ist, hat sich Kückels in unzähligen Stunden an Trainingsg­eräten mühsam erkämpft. Er kann seine Unterschen­kel wieder bewegen und mit den Zehen wackeln. An einem Rollator mit Armstützen kann er für kurze Zeit sogar stehen. „Die meisten Dinge kriege ich alleine hin“, sagt er, „beim Rest hilft meine Frau.“

Der Rentner, graue Haare, Hemd, dunkelrote­r Pullunder, ist viel in seinem motorisier­ten Rollstuhl unterwegs. Fast 6000 Kilometer ist er in den vergangene­n Jahren gefahren. Seit kurzem besitzt er einen Bulli, in den er mit seinem Rollstuhl reinfahren und den er alleine bedienen kann.

Kückels fühlt sich weiterhin mit der Feuerwehr verbunden, auch wenn er selbst nicht mehr helfen kann. Bei Grillabend­en und Generalver­sammlungen ist er immer dabei. Wenn sein Sohn von Einsätzen mit der Freiwillig­en Feuerwehr zurückkomm­t, muss er dem Vater berichten, wie es gelaufen ist. Kückels erklärt: „Man fiebert immer noch mit.“

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