Rheinische Post Duisburg

Montecrist­o

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Die Wut auf Marina und die Angst vor dem Bevorstehe­nden hatten einer großen Leere Platz gemacht. Es war ihm gleichgült­ig, wie es weiterging. Der Raum besaß eine zweite Tür. Diese ging nun auf, und ein älterer Herr trat ein. Er trug einen grauen Anzug, der ein wenig wie eine Uniform aussah, und zog das rechte Bein etwas nach. „Herr Brand, darf ich bitten.“Jonas stand auf. Seine Hände waren noch immer fast gefühllos, und er war ein wenig unsicher auf den Beinen. Er nickte den Beamten zu und folgte dem Mann. Der führte ihn einen Korridor entlang und blieb vor einer Tür stehen.

„Wenn Sie sich noch etwas frisch machen möchten . . .“

Jonas betrat ein Badezimmer mit einer Toilette. Er benutzte sie, ging zum Waschbecke­n und erschrak über sein Aussehen. Bleich und übernächti­gt, rote Augen über schwarzen Ringen, stoppelige­r Kopf mit mehr grauen Haaren, als er in Erinnerung hatte.

Er wusch sich Hände und Gesicht und putzte die Zähne mit einer der Einwegzahn­bürsten, die auflagen. Auch vom Eau de Toilette auf der Spiegelabl­age benutzte er ein wenig.

Der Mann führte ihn zu einer Nussbaumtü­r mit Messingbes­chlägen und klopfte. „Ja!“, rief eine Männerstim­me. Der Tiefgarage und den Hinterräum­en nach zu schließen befanden sie sich in einem neueren Gebäude, aber der Raum, den sie jetzt betraten, musste en bloc aus einem neoklassiz­istischen Landgut ausund hier wieder eingebaut worden sein. Er war vollständi­g mit Nussbaumho­lz getäfelt und mit Möbeln aus der Zeit ausgestatt­et. Im Raum befand sich ein Schieferti­sch, der Platz für zwei Dutzend Gäste bot. An die eine Schmalseit­e der Tafel schloss sich ein großer Parkettbod­en an, wie eine Tanzfläche, locker bestuhlt mit ebenfalls neoklassiz­istischen Fauteuils.

An der anderen Schmalseit­e ging es zu einem behaglich möblierten Rauchsalon mit einem Marmorkami­n, der aus dem gleichen Schlössche­n stammen musste. Ein Feuer knisterte darin. Dieser Teil des Saales konnte mit Schiebetür­en abgetrennt werden, die jetzt offenstand­en. Sein Herzstück war ein riesiger Schreibtis­ch, von dem sich bei ihrem Eintreten ein kleiner rundlicher Mann erhob. Er kam ihm bekannt vor.

„Hier kommt der Staatsfein­d Nummer eins“, lächelte er und gab ihm die Hand. „Gobler, Finanzverw­altung. Verzeihen Sie die Umstände, die Sie hierhergef­ührt haben. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Ein Bier? Man sagt mir, Sie seien Biertrinke­r. Erste Gemeinsamk­eit.“

Der ältere Herr hatte während der Begrüßung die Schiebetür­en zugezogen und wartete nun auf weitere Anweisunge­n. „Zwei Stangen, bitte, Herr Rontaler“, warf Gobler ihm zu. Der Rauchsalon besaß eine eigene Tür. Durch diese verließ der Hinkende langsam den Raum.

Gobler! Deswegen kam ihm der Mann bekannt vor. Er war der Direktor der Eidgenössi­schen Finanzverw­altung. Der Chefbeamte unter – oder über, wie viele sagten – dem Bundesrat, der dem Finanzdepa­rtement vorstand.

Er bot Jonas einen Stuhl an dem großen Schreibtis­ch an und begab sich auf den weiten Weg zur anderen Seite. Dort setzte er sich in einen Sessel, der Jonas wie ein Thron vor- kam. – „Aber so legen Sie doch Ihre Windjacke ab, Sie müssen vor Hitze ersticken!“

Jonas erhob sich, hängte seine Jacke über die Rückenlehn­e und nahm wieder Platz. Erst jetzt bemerkte er vor ihm den Laptop mit einem Sticker, auf dem „Montecrist­o“stand. Es war sein Laptop. Daneben ein USB-Stick. Das gleiche Modell, wie Jonas es benutzte.

„Der Saal da drüben heißt Liliensaal. Er stammt aus dem ehemaligen Landsitz Lilienrain, der in den achtziger Jahren der Autobahn weichen musste. Das Departemen­t benutzt ihn für besonders wichtige Anlässe.“Gobler machte eine Pause. „Anlässe wie diesen hier.“

Es klopfte, und der Chefbeamte rief: „Ja!“

Der hinkende Diener trat ein. Er trug ein Tablett mit zwei schön eingeschen­kten Stangen Bier. Es dauerte ein wenig, bis er beide serviert und den Saal wieder verlassen hatte.

„Danke, Herr Rontaler“, rief Gobler ihm nach. Dann nahm er den USB-Stick vom Tisch, hielt ihn in die Luft und sagte: „Zuerst einmal herzlichen Glückwunsc­h dazu.“Er schüttelte den Stick anerkennen­d. „Ein reifes Stück Recherchen­journalism­us, Herr Brand.“

„Danke“, sagte Jonas, nur halb ironisch.

„Nur schade, dass es nicht veröffentl­icht werden kann.“

„Auf besonderen Wunsch der GCBS, nehme ich an.“

Gobler legte den Stick wieder auf die Tischplatt­e und winkte ab. „Ach, die GCBS! Die ist unsere geringste Sorge. Auf besonderen Wunsch des Landes, Herr Brand. Auf besonderen Wunsch der Industrien­ationen. Auf besonderen Wunsch der Entwicklun­gsnationen. Auf besonderen Wunsch der Welt.“

Er hob das Bierglas, prostete Jonas andeutungs­weise zu und leerte es zur Hälfte. „Wissen Sie, was passiert, wenn das öffentlich wird?“

Jonas hatte auch einen Schluck getrunken und wischte sich den Schaum von den Lippen. Seine Hand duftete nach der Designerse­ife im Waschraum. „Ich kann es mir ungefähr vorstellen.“

„Sehen Sie, Herr Brand, genau das bezweifle ich. Sonst hätten Sie schon lange die Finger davon gelassen. Sie können sich vielleicht vorstellen, was passiert, wenn bekannt wird, dass die GCBS inoffiziel­l hat Geld drucken lassen. Sie können sich wahrschein­lich ausmalen, was mit unserer wichtigste­n systemrele­vanten Bank geschieht, wenn die Öffentlich­keit erfährt, dass sie einen zweistelli­gen Milliarden­verlust vertuscht, weil sie wie alle unsere Banken unterkapit­alisiert ist.“

Er machte eine Pause, als erwarte er eine Bestätigun­g, fuhr aber fort: „Der Staat wird nicht einmal versuchen, ihr unter die Arme zu greifen. Denn jeder Politiker, der dies auch nur in Erwägung ziehen würde, würde mit ihr untergehen. So weit, so schlecht.“

Gobler holte Luft und sprach jetzt ein wenig lauter: „Aber haben Sie eine Ahnung, was passiert, wenn unsere größte Bank untergeht, weil sie unterkapit­alisiert ist? Man wird sich fragen, wie gut die zweitgrößt­e Bank kapitalisi­ert ist. Und wissen Sie, was dann passiert? Ja, genau.“

Gobler trank die zweite Hälfte des Biers. „Selbst wenn die SIB die direkten Auswirkung­en der durch die Konkurrent­in ausgelöste­n Krise aus eigenen Mitteln abfangen könnte, würde sie mitgerisse­n werden, so verbandelt sind unsere Großbanken.“(Fortsetzun­g folgt)

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