Montecristo
Sie, die Einzige, der er am Schluss noch vertraut hatte, hatte ihn kaltblütig verraten. Er befand sich plötzlich in der Berner Altstadt. Trockenen Fußes konnte er durch die fast menschenleeren Laubengänge gehen, während auf den Gassen dazwischen die Räumungsdienste ihre Arbeit verrichteten.
Ein Streifenwagen fuhr langsam vorbei. Jonas blieb hinter einem Bogenpfeiler stehen. Der Streifenwagen hielt.
Waren sie hinter ihm her? Er kannte die Spielregeln dieses Geheimbundes nicht. Mussten deren Mitglieder einen Eid leisten oder sich Aufnahmeritualen unterziehen, bevor sie sich frei bewegen durften?
Der Streifenwagen stand noch immer. Jonas ging zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Er hörte das Wendemanöver des Wagens, und kurz darauf befand er sich wieder auf gleicher Höhe.
Jonas gab auf. Er stellte sich in den nächsten Laubenbogen und wartete. Der Streifenwagen fuhr an den Randstein heran. Die Tür im Fond ging auf und – Marina stieg aus.
„Vielen Dank“, rief sie in den Wagen hinein, schlug die Tür zu und kam auf ihn zu.
Jonas drehte ihr den Rücken zu und ging rasch weiter. Er hörte ihre hohen Absätze hinter sich klappern und nach einer Weile ihre Stimme: „Jonas! So warte doch. Lass dir erklären!“Er ging noch schneller. „Jonas! Sei nicht kindisch!“, rief sie. Dann hörte er sie rennen. Das Klicken ihrer Highheels kam näher. Erst verfiel er auch in einen Laufschritt, aber dann kam er sich noch lächerlicher vor. Er blieb stehen und wartete, bis sie ihn eingeholt hatte. – Sie war etwas außer Atem, als sie sagte: „Lass es mich doch wenigstens erklären, das schuldest du mir!“
„Schulden?“, rief er aus. „Ich soll dir etwas schulden? Wofür denn? Du hast mich verraten, wie mich noch nie jemand verraten hat!“
Ein älterer Mann mit einem Hund kam ihnen im Laubengang entgegen. „Seid lieb zueinander“, sagte er im Vorbeigehen.
Erst jetzt sah Jonas im schwachen Licht eines Schaufensters, dass Marina Tränen in den Augen hatte.
Etwas ruhiger wiederholte „Wofür schulde ich dir etwas?“
„Dafür, dass ich dir Max’ oder Continis Schicksal erspart habe.“
„Ach“, gab er sarkastisch zurück, „du warst das also.“Er setzte sich wieder in Bewegung, sie blieb, ohne ihn zu berühren, dicht an seiner Seite.
So gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her, bis der Laubengang an einem großen Platz endete. Am Rand der schneebedeckten Fläche lag breit und behäbig das beleuchtete Bundeshaus.
„Das ist mir jetzt fast ein bisschen zu symbolisch“, bemerkte Marina. Jonas lächelte nicht.
Sie gingen auf das Parlamentsgebäude zu und daran vorbei und erreichten eine große, parkähnliche Terrasse. Ihre Schneedecke war nur durch eine einsame Fußspur beschädigt, die zu und von einer Parkbank führte, von deren Sitzfläche jemand etwas Schnee weggewischt hatte.
Es war Jonas, der zuerst sprach: „Bist du schon lange dabei?“
„Seit ich damals beruflich in Bern war. In Wirklichkeit bin ich in Zürich geblieben und habe mich mit Just getroffen.“– „Wie hast du denn den kennengelernt?“Jonas spürte,
er: wie die Eifersucht in ihm hochstieg. – „Bei der Präsentation eines Events. Ich habe dann gemerkt, dass diese nur ein Vorwand war. In Wirklichkeit ging es ihm darum, mich zu einer geheimen Besprechung einzuladen.“
„Du lässt dich von älteren Herren anbaggern?“
„Wenn sie sagen, es gehe um dich und du seist in großer Gefahr, dann schon.“
Sie hatten jetzt die Mauer der Terrasse erreicht. Unter ihnen lag dunkel die Aare, darüber glitzerten die Lichter des Kirchenfeldquartiers. „Und dann hast du ihn getroffen.“„Im Drachenhaus. In einem luxuriösen Appartement mitten in der Altstadt. Aber nicht nur ihn. Auch Lili war dabei. Und Tommy und noch ein paar andere neue. Es gab Champagner und Fingerfood, Just hat eine kurze Einführung gehalten, dann kam Gobler, der Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung, und hat uns eingeschworen.“
„Darin ist er gut“, räumte Jonas ein. „Aber warum habt ihr mich nicht eingeweiht? Wie du siehst, lasse ich mich überzeugen.“
„Das habe ich auch gesagt. Aber Just war der Meinung, du seist gefährlich wie ein unguided missile, von dem man nie wissen könne, wann es explodiert oder wo es einschlägt.“
„Und eure Mission war es, diesen ungelenkten Marschflugkörper zu steuern.“Jonas nahm kopfschüttelnd etwas Schnee von der Mauerbrüstung und formte einen Schneeball.
Marina zog den Mantel enger um die Schultern. „Ich weiß, jetzt klingt das alles blöd, aber so, wie man mir das erklärte, ging es um wahnsinnig viel.“– Jonas warf den Schneeball. Sie sahen zu, wie die Nacht ihn verschluckte. „Es ging um uns beide“, sagte er.
„Eben. Das ist doch wahnsinnig viel.“„War.“Sie schwiegen. Auf der Kirchenfeldbrücke blinkten gespenstisch die Lichter eines Schneepfluges.
„Hast du wirklich geglaubt, ich würde die Bombe platzen lassen, wenn ich gewusst hätte, worum es ging?“
Marina zuckte mit den Schultern. „Nicht wirklich. Aber ganz ausschließen konnte ich es auch nicht, oder?“
Er hatte begonnen, einen neuen Schneeball zu formen. „Da kennst du mich schlecht.“
Nach einer Pause sagte sie leise: „Meine Mutter sagt, ein ganzes Leben reicht nicht einmal, um sich selbst kennenzulernen.“
Jonas warf den Schneeball. „Warum haben sie mich nicht einfach liquidieren lassen, wie die anderen?“
„Vielleicht hattest du zu viel in der Hand. Und sie wussten nicht, wo du deine Landminen überall vergraben hast.“
„Landminen, Marschflugkörper, wie im Krieg.“„Für die ist es Krieg.“„Sie machen es zum Krieg, weil im Krieg alle Mittel erlaubt sind. Auch Hochverrat.“
Marina schwieg. Hinter ihnen fiel mit einem dumpfen Geräusch eine Ladung Schnee vom Ast eines Baumes. Beide erschraken.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Jonas schüttelte sie ab.
„Wir haben dich nicht verraten, Jonas. Wir haben dich beschützt.“
„Wir, wir. Was die anderen tun, ist mir scheißegal. Aber du!
(Fortsetzung folgt)