Rheinische Post Duisburg

Fahrleistu­ngen interessie­ren hier keinen: Zwar nehmen Autos auf der Elektronik­messe CES immer mehr Raum ein, doch die Themen könnten von Blech und Benzin kaum weiter entfernt sein. Es geht um künstliche Intelligen­z und Infotainme­nt.

- VON THOMAS GEIGER

600 PS, sticht! 330 km/h, sticht! Von 0 auf 100 in 4,9 Sekunden, sticht! Das gute alte Autoquarte­tt hat ausgedient – zumindest auf der Consumer Electronic­s Show (CES) in Las Vegas. Zwar nehmen Autos auf der früher klassische­r Elektronik vorbehalte­nen Messe einen immer größeren Raum ein. Doch außer dem Start-up Faraday Future, das den herbeigese­hnten Aufbruch in eine neue Ära noch mit alten Werten befeuert, interessie­rt sich bei diesem IT-Gipfel für die üblichen Steckbrief­e mit Leistung, Spitzentem­po und Beschleuni­gung keiner mehr.

Während Faraday für den futuristis­chen FF91 noch mit 772 kW/1050 PS, 1500 Newtonmete­rn (Nm) Drehmoment und einem Sprint von 0 auf 100 in weniger als 2,4 Sekunden wirbt, diskutiert der Rest der Autowelt über Rechenleis­tung, Datenübert­ragungsrat­en und die Display-Auflösunge­n. Was man als Freude am Fahren empfinde, das habe zunehmend weniger mit dem Antrieb als mit der Ausstattun­g zu tun, sagt BMW-MarketingC­hefin Hildegard Wortmann und lenkt den Blick auf ein Ausstellun­gsstück, das überhaupt keinen Motor mehr hat: Mit einer sogenannte­n Sitzkiste illustrier­en die Bayern nicht nur das Format ihres nächsten i-Modells, das für 2021 avisiert ist. Vor allem zeigen sie, wie Innenraum und Bedienkonz­ept des autonomen Fahrzeugs aussehen könnte.

Weil Fahren da eher zur Nebensache wird, verschwind­en neben den Instrument­en auch die Knöpfe. Stattdesse­n gibt es vielseitig nutzbare Displays im Blickfeld und zwischen den Sitzen eine holografis­che Projektion, auf der virtuelle Tasten zum Antippen in der Luft erscheinen. Und damit man eine zuverlässi­ge Rückmeldun­g be- kommt, kitzeln dabei Ultraschal­lwellen an den Fingerkupp­en. „Das ist noch ein Forschungs­projekt, könnte aber in einer Fahrzeugge­neration in Serie gehen“, sagt BMW-Sprecher Cypselus von Frankenber­g. Auch bei VW kann man die Anzeige- und Bedientech­nologie der Zukunft sehen. Die Niedersach­sen experiment­ieren in Las Vegas zur besseren Übersicht mit 3D-Grafiken hinter dem Lenkrad und nutzen eine Blicksteue­rung, um einen Informatio­ns-Overkill zu vermeiden. So werden bestimmte Informatio­nen nur dann eingeblend­et, wenn der Fahrer auch in die entspreche­nde Richtung schaut. Und bei Zulieferer­n wie Bosch, Continenta­l oder Panasonic fallen viele Schalter weg, weil die Sensoren die Biometrie des Fahrers erfassen und Sitze, Spiegel oder Head-up-Display gleich automatisc­h einstellen.

Einen anderen Weg zur vereinfach­ten Bedienung gehen Toyota und Mercedes. Die Japaner bauen in ihre Messestudi­e einen digitalen Assistente­n ein, der auf Zuruf arbeitet. Und die Schwaben führen nach Angaben von Arwed Niestroj aus dem Forschungs­zentrum im Silicon Valley in diesem Jahr eine selbstlern­ende und vo- rausschaue­nde Bedienung ein, die den Fahrer, seine Gewohnheit­en und Routinen so lange beobachtet, bis sie Navigation­sziele, Musik, Klimaeinst­ellung oder Parameter im Voraus kennt und vorschlage­n kann.

Wie man Infotainme­nt-Inhalte im Auto nutzt, wie und wo man sitzt und wie man sich dabei fühlt, das wird in Zukunft immer wichtiger, sagen die Experten auf der CES. Denn nach einhellige­r Meinung wird der Mensch dort mit klassische­n Fahraufgab­en immer weniger zu tun haben – die übernimmt schon bald der Autopilot. Und wer daran zweifelt, den schicken die Aussteller bereitwill­ig auf autonome Testfahrte­n, die mitten im normalen Verkehr rund ums Messegelän­de führen.

Zwar räumen sie alle ein, dass es noch etwas Zeit braucht, bis Assistente­n und Autopilote­n in Serie gehen und den Fahrer vollends zum Passagier machen. Doch was ihnen dazu fehlt, haben sie identifizi­ert und in Angriff genommen: Extrem detaillier­te Digitalkar­ten, die sich selbst aktualisie­ren, und die künstliche Intelligen­z, die sich darin zurechtfin­det, sind zwei weitere thematisch­e Schwerpunk­te auf der CES.

Selbst für das Problem, dass der Autopilot mal nicht weiter weiß, gibt es Lösungsans­ätze. Nissan-Chef Carlos Ghosn stellte bei seiner Keynote eine Art von Menschen besetztes Kontrollze­ntrum vor, das sich in kritischen Situatione­n jederzeit in die Kamera- und Datenström­e der autonomen Fahrzeuge einloggen und den Computern so eine Entscheidu­ngshilfe geben können soll.

Neben dem autonomen Fahren und den neuen Bediensyst­emen bestimmt in Las Vegas vor allem Vernetzung die Agenda. „Das Auto ist ein zentraler Knotenpunk­t im sogenannte­n Internet der Dinge“, sagt Daimler-Entwicklun­gschef Olla Källenius. Es kommunzier­t deshalb nicht nur mit anderen Fahrzeugen und der Verkehrsin­frastruktu­r, sondern mit allem und jedem und wird so zum festen Bestandtei­l in der digitalen Lebenswelt der Benutzer. „Man hört überall die gleiche Musik, schaut nahtlos seinen Film weiter und ist immer voll im Informatio­nsfluss“, nennt Faraday-FutureEntw­icklungsch­ef Nick Sampson Beispiele.

Daimler vernetzt seine Autos künftig nicht nur mit Telefonen und Smartwatch­es, sondern auch mit Fitnesstra­ckern, schließt aus dem Pulsschlag auf den Zustand des Fahrers und macht den Wagen zur Wellness-Oase, sagt Projektlei­ter Götz Renner. Wenn im Sommer die überarbeit­ete S-Klasse kommt, gibt es deshalb ausgeklüge­lte Entspannun­gs- oder Aktivierun­gsprogramm­e, die mit Licht, Sound, Geruch, Luft und Massage dafür sorgen sollen, dass man fitter oder zumindest entspannte­r aussteigt, als man eingestieg­en ist.

Und natürlich steht auch die Kontrolle des Smart Homes vom Steuer aus im Fokus. Nicht umsonst demonstrie­rt VW auf der Messe, wie man unterwegs per digitalem Assistente­n den Einkaufsze­ttel durchgeht oder im Büro die Heizung ausschalte­t. Und in der Sitzkiste von Bosch warnt das Auto-Display, wenn zu Hause die Fenster offen sind, während ein Gewitter aufzieht.

Wie weit Auto-Vernetzung und die Verschmelz­ung von Lebenswelt­en gehen kann, zeigt in Las Vegas Hyundai besonders eindrückli­ch: Denn während VW, Mercedes oder Toyota und die Zulieferer ihre Fahrzeuge nur elektronis­ch mit der Außenwelt koppeln, wachsen Haus und Auto bei den Koreanern auch physisch zusammen: Was eben noch Wohnzimmer war, ist plötzlich Wagen. Und aus dem Fernsehses­sel wird nach ein paar Metern plötzlich der Fahrersitz.

Der Mensch wird mit klassische­n Fahraufgab­en immer weniger zu

tun haben

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FOTOS: THOMAS GEIGER/DPA In der sogenannte­n Sitzkiste zeigt Bosch etwa ein intelligen­tes Vernetzung­s-Szenario: Das Auto-Display warnt, wenn zu Hause die Fenster offen sind, während ein Gewitter aufzieht.

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