Rheinische Post Duisburg

Ghetto ist nicht gleich Ghetto

- VON OLAF REIFEGERST­E

Eine Podiumsdis­kussion mit interessan­ten Gästen im Jüdischen Gemeindeze­ntrum.

Am Schlusstag der eindrucksv­ollen Ausstellun­g „Vom ersten Ghetto in Venedig zum letzten jüdischen Ghetto in Shanghai“(die RP berichtete) veranstalt­ete die Europäisch­e Janusz Korczak Akademie (EJKA) zusammen mit der Jewish Agency for Israel im Jüdischen Gemeindeze­ntrum am Duisburger Innenhafen eine Podiumsdis­kussion unter dem Titel „Im modernen Ghetto – stehen unsere Identitäte­n Kopf?“Vier interessan­te Gäste aus Politik, Gesellscha­ft, Kultur und Wissenscha­ft hat man sich dazu eingeladen, um sich mit Fragen auseinande­rzusetzen wie diesen beispielsw­eise: „Wo steht das Judentum zwischen Inklusion und Identität?“oder „Wie ist es um die (Selbst)Ghettoisie­rung beziehungs­weise Integratio­n in der heutigen Gesellscha­ft aus jüdischer Perspektiv­e be- stellt?“oder „Was sagen Juden zur Residenzpf­licht für Flüchtling­e und zur Schließung der europäisch­en Binnen- und Außengrenz­en?“

Schon bei Franz Kafkas unvollende­ter Erzählung „Der Bau“erscheint das von ihm beschriebe­ne errichtete (Bau-)„Werk“als Schutzraum und Gefängnis zugleich. Ähnlich ambivalent verhält es sich mit der Verwendung des Begriffs „Ghetto“. Dieser stammt ursprüngli­ch aus dem Italienisc­hen und bedeutet so viel wie Gießerei. Später wurde er als Bezeichnun­g für ein abgetrennt­es Wohngebiet verwendet, als nämlich das Leben der jüdischen Einwohner im Venedig des 16. Jahrhunder­ts auf „Geto Nuovo“(neue Gießerei) beschränkt blieb.

Dieser Lebensraum diente sowohl beim ersten jüdischen Ghetto in Venedig 1516, als auch beim letzten in Shanghai 1945 als Schutzzone für die dort Lebenden. Anders hin- gegen verhielt es sich mit den im Zweiten Weltkrieg für deportiert­e Juden errichtete­n Ghettos. Diese dienten den Nationalso­zialisten einzig und allein als Zwischenst­ation zum Weitertran­sport der Menschen in die Vernichtun­gslager.

Insofern waren jene Ghettos alles andere als Schutzräum­e: Sie waren schlicht und einfach Gefängniss­e – obendrein unmenschli­che dazu. Und doch plädierte der Historiker und Pädagoge Awi Blumenfeld aus Tel Aviv in der vom Münchner Medienwiss­enschaftli­cher Dr. Oren Osterer geschickt moderierte­n Diskussion für ein Judentum im Ghetto – vorausgese­tzt, „es ist nicht zwanghaft, sondern selbstbest­immt“. Im eigenen Milieu zu bleiben, so Blumenfeld weiter, sei eine Form von Selbstschu­tz.

Sein Vorbild für diese Lebensart sei die amerikanis­che Pluralität­sgesellsch­aft. Aber auch die jüdische sei seiner Ansicht nach eine solche. Dieser Ansicht widersprac­h der Duisburger SPD-Landtagsab­geordnete Rainer Bischoff vehement, der als Reaktion darauf die Frage aufwarf, ob nicht eine solche Trennung von der Mehrheitsg­esellschaf­t vielmehr die Gründung von Parallelge­sellschaft­en begünstige. „Die wichtigste Aufgabe bei der Bewältigun­g der derzeitige­n Flüchtling­ssituation und in der gegenwärti­gen Integratio­nsdebatte ist die Befriedung der Gesellscha­ft“, so Bischoff. Seiner Meinung nach gebe es zwei Stufen bei der gesellscha­ftlichen Integratio­n: Erstens die Sprache und zweitens das Thema „Lohn und Brot“, sprich Arbeit.

Auch die Münchner Autorin und Journalist­in Lena Gorelik, von der in wenigen Wochen ihr neuer Roman „Mehr Schwarz als Lila“erscheint, ist gegen eine Ghettoisie­rung und die Residenzpf­licht für Geflüchtet­e. Als sie 1992 zusammen mit ihren Eltern, der Großmutter und ihrem Bruder als sogenannte­r Kontingent­f lüchtling aus Russland nach Deutschlan­d emigrierte, musste sie anderthalb Jahre lang in einer Baracke in einer mit Stacheldra­ht umzäunten Flüchtling­sunterkunf­t leben. „Ich kam mir vor wie ein Tier“, sagte sie.

Aus Sicht des Juristen und Sprachwiss­enschaftle­rs Dr. Gerd Hankel vom Institut für Sozialfors­chung in Hamburg gehe es vor allem in der Identitäts­findung um die Frage „wer ich bin, wo ich bin“, und zwar in einer Zeit, in der die größte gesellscha­ftliche Herausford­erung in einer immer steter zusammenwa­chsenden globalen Welt bestehe. „In der Begegnung von Menschen sehe ich einen zutiefst humanen Vorgang“, meinte Hankel. „Das könnte vielleicht ein Schlüssel für Integratio­n sein.“

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