Mach weiter, Wazinski!
Horst Wazinski hat sein Lebenswerk verloren. Vor einem Jahr stahlen Unbekannte die preisgekrönten Tauben. Sollte der Mönchengladbacher aufhören oder von vorne anfangen? Die Geschichte eines erstaunlichen Mannes von fast 81 Jahren.
MÖNCHENGLADBACH An einem Montagmorgen trifft Horst Wazinski ein Knüppel auf dem Kopf. Mit Sohn Harald ist er zu seinen Tauben gefahren, es ist Februar 2016. Auf der Anlage der „Mönchengladbacher Geflügelfreunde“schaut er fast jeden Tag vorbei. Er ist der Vorsitzende des Vereins, Harald sein Stellvertreter. Wazinski geht zu den Tieren. Schnell merkt er, dass etwas nicht stimmt. Am ersten Stall steht die Türe weit offen, am zweiten auch, es stehen sehr viele Türen offen, auch die zu seinen Käfigen. Die Schlösser sind durchtrennt. Er geht hinein und – sieht nichts, wo eigentlich Tauben sein müssten. Er schaut in seinen anderen Ställen nach. Und hat das Gefühl, dass ihm jemand mit dem Knüppel auf den Kopf schlägt. „Aus“, denkt er nur noch.
Die Zahlen sind grausam: 420 Tauben haben die Diebe gestohlen, 84 gehörten ihm. Das Schlimmste: Von den Tauben, die er für Wettbewerbe züchtet, mit denen er Weltund Europameister geworden ist, von jenen 30 Pärchen der „Budapester Kurzen“, bleiben ihm noch zwölf Weibchen. Die Männchen sind alle fort. Später findet er noch sieben Jungtiere, bei denen er noch nicht weiß, welches Geschlecht sie haben. Wie soll er je wieder konkurrenzfähig züchten können? Seine Frau Maria sagt, es sei das zweite Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie ihren Mann weinen sah. Als er nach Hause kommt, setzen sie sich zusammen, halten sich an der Hand und heulen. „Die ersten drei Wochen habe ich gedacht, er dreht durch. Er war richtig krank.“Seit mehr als 40 Jahren hat Wazinski diese Budapester gezüchtet. Nun muss er sich entscheiden: Noch mal von vorne anfangen oder aufhören? „Ich bin nicht alt, ich bin nur älter geworden“, hat er doch immer gesagt.
Es ist das Leichteste der Welt, das alles nicht zu verstehen. Nicht Wazinskis Begeisterung für die Tiere und die Zucht. Nicht seine Niedergeschlagenheit nach dem Diebstahl. Nicht, warum diese Geschichte hier überhaupt steht. Ein 80-jähriger Mann verliert seine Tauben – ja und? Doch das hieße, eine ganze Menge zu übersehen.
Wer begreifen will, wie viele Knüppel an jenem Montagmorgen seinen Kopf trafen, wer begreifen will, warum der finanzielle Verlust noch der geringste war, der muss in Wazinskis Kindheit beginnen. Wer die Geschichte von den Tauben erzählen will, muss von Wazinskis Leben erzählen. Von Anfang an.
Wazinski ist kaum eingeschult, da geht die Sache mit den Tauben los. 1936 kommt er im damaligen Ostpreußen auf die Welt, wächst in einem Dorf bei Allenstein (heute Olsztyn) auf, als Zweiter von drei Söhnen. Sein Vater und sein Opa züchten reinrassige Tauben. Er hilft ihnen. Füttern, saubermachen, das ganze Programm. Dann schreibt der Krieg sein Leben um. Sein Vater fällt 1944. Zum Kriegsende fliehen die Wazinskis für einige Wochen aufs Land. Als sie zurückkehren, ist das Haus abgebrannt, die Tauben sind tot oder fortgeflogen. Die Familie leidet Hunger, Wazinski wird in der Schule verprügelt, wenn er Deutsch spricht. Allenstein gehört jetzt zu Polen.
Doch da gibt es auch Dinge, die ihm Freude machen. Die Tauben kehren zurück in sein Leben. Mit elf, zwölf Jahren trifft er einen deutschen Jungen, der Tauben züchtet. Wazinski steigt sofort wieder ein. Doch auch diese Tiere verliert er. Die Familie darf 1957 Polen verlassen, die Tauben können nicht mit. Wazinski landet in Mönchengladbach. Mit der Taubenzucht ist es erst mal vorbei.
Seine große Zeit als Züchter beginnt Mitte der 70er Jahre. Da zieht er mit seiner Frau ins Eigenheim. Als er seine alte Heimat besucht, trifft er auch den Taubenfreund seiner Kindheit wieder. Der überlässt ihm zwei Paar Budapester Kurze, Kurze wegen der Schnäbel.
Es werden erfolgreiche Jahre für Wazinski. Viele erste Plätze, Europameister, Weltmeister. Das Vereinsheim ist voll mit seinen Pokalen, Wimpeln und Tellern. „Wer es nicht ernst nimmt, soll zu Hause sitzen und Karten spielen“, sagt Wazinski. Fast jeden Tag fährt er fortan zur Anlage. Ihm ist es sogar so ernst, dass er im Sommer, wenn die Tauben sich fortpflanzen, Frau und Kinder nach Kärnten in den Urlaub bringt und alleine dann gleich wieder zurückkehrt. Als er mit 60 in Rente geht, hat er noch so viel zu tun, dass er den Fernseher erst um Viertel vor sieben einschaltet, wenn die Nachrichten laufen. Die Tauben brauchen ihn, er braucht die Tauben.
Diese Züchterkarriere gerät in der Nacht zum 15. Februar 2016 ins Wanken. Von den Tauben fehlt bis heute jede Spur. Fast 40 Jahre Arbeit sind verloren. Wie soll er züchten, wenn er nur noch Weibchen hat? Tiere von anderen Züchtern will er nicht. Ihm ist klar, dass sie ihm nicht die besten Tauben geben werden. Er hat Ansprüche, er will Preise gewinnen. Seine Frau rät ihm, es bleiben zu lassen. Eine Zeit lang glaubt sie sogar, dass er es tut. Aber Wazinski hat schon ganz anderes in seinem Leben überstanden.
Er weiß, dass es schwer wird, noch mal das Niveau zu erreichen, aber er macht weiter. „Das Leben ist, wie auf einer Leiter zu stehen: Guck nach oben, nicht nach unten“, sagt er. Als er einige Tage nach dem Diebstahl die leeren Ställe säubert, weint er. Doch im März meint es jemand gut mit ihm. Die Jungtiere sind allesamt Männchen. Er kann weiterzüchten. Und er will weiterzüchten. „Erst wenn ich die Augen zumache, ist die Karriere vorbei“, sagt er. Wenige Monate später schlüpfen knapp 30 Budapester. Früher hätte er nur die besten be- halten, diesmal behält er alle. Er braucht erst mal jedes Tier.
Ein kalter Dienstagvormittag im Januar 2017. Der Diebstahl liegt nun fast ein Jahr zurück. Seitdem hat er an keinem Wettbewerb teilgenommen. Wazinski ist mal wieder zur Anlage gefahren. Tauben füttern. Er geht in einen Käfig, schüttet aus einer Blechdose Körner in einen Trog.
Eigentlich müsste er auch die Ställe saubermachen, doch es gibt da ein Problem. Kurz vor Weihnachten hat er gemerkt, dass er die Hände nicht mehr zu Fäusten ballen kann. Der erste Arzt sagt, es sei Rheuma, der zweite diagnostiziert Osteoporose. Er nimmt nun Tabletten und Creme. Der Mann, der noch zu seinem 80. Geburtstag mit dem Auto zwölf Stunden in seine frühere Heimat fuhr, kann nur noch schwer greifen. Damit er die Tiere wenigstens füttern kann, wärmt er die Hände vorher mit einem Fön auf. Bevor er die Anlage wieder verlässt, schaltet er noch mal den Fön an.
Gerade will er zum Auto gehen, steht schon vorm Vereinsheim, als sein Handy klingelt. Ein Züchterkollege, von dem er ewig nichts gehört hat. Er sollte jetzt eigentlich in den Wagen steigen, aber er muss dann doch von allem erzählen. Von den Händen, von der Hühnerpest, die gerade jede Schau verhindert, von den gestohlenen Tauben.
Ende des Jahres will er wieder an einem Wettbewerb teilnehmen.
Seine Frau Maria sagt, es sei das zweite Mal
in ihrem Leben gewesen, dass sie ihren
Mann weinen sah