Der Mann, der einen Dschungel pflanzte
Was kann ein einzelner Mensch schon erreichen? Zum Beispiel einen kompletten Wald anpflanzen. Einen Wald, so groß wie 800 Fußballfelder. Dem Inder Jadav Payeng ist das innerhalb von fast 30 Jahren gelungen.
NEU-DELHI Für einen Spinner hatten die Leute Jadav Payeng gehalten, für jemanden, der wild entschlossen war, einen aussichts- und damit sinnlosen Kampf zu führen: Ganz allein mit einer Handvoll Setzlinge gegen die Sonne, die auf eine riesige, staubige Sandbank herunterbrannte – wie sollte das funktionieren? Doch fast 30 Jahre später kam der Moment, in dem die Bewohner der Nachbardörfer eine Elefantenherde suchten, die nach dem Zertrampeln ihrer Hütten wie vom Erdbeben verschluckt schien. Bald stellte sich heraus, dass die Tiere Schutz gesucht und gefunden hatten in dem Dschungel, den Payeng geschaffen hatte, der Spinner. Es waren nicht bloß eine Handvoll oder ein Dutzend Elefanten. Es waren rund 100.
Das klingt wie ein Neuaufguss der Kurzgeschichte „Der Mann, der Bäume pflanzte“des französischen Autors Jean Giono. Doch deren Hauptperson Elzéard Bouffier war frei erfunden, wie der Autor vielen hingerissenen Lesern erklären musste. Jadav Payeng hingegen ist echt. Er lebt – wie der Wald, den er angepflanzt hat, 550 Hektar bis heute, das sind rund 800 Fußballfelder. 5,5 Millionen Quadratmeter voller Gräser, Farne, Büsche, Bambusstauden und ausgewachsener Bäume. Bevölkert zunächst von Insekten und Schlangen, Vögeln und Affen, Hasen und Hirschen, schließlich auch von den seltenen, gefährdeten bengalischen Tigern und Rhinozerossen. Auch die Elefanten besuchen den Wald immer wieder.
Den Grundstock dafür legte Payeng 1979. Das dritte von 13 Kindern seiner Eltern war damals 16 Jahre alt und nach seinem Schulabschluss auf Heimaturlaub in seinem Geburtsort. Doch in Aruna Chapori im Bezirk Majuli in Assam, dem äußersten Nordosten Indiens, bot sich ihm ein verstörender Anblick: Der mächtige Brahmaputra-Fluss hatte eine Insel überflutet und dabei Dutzende Schlangen angespült, die mangels Schatten bei lebendigem Leib vertrocknet waren. Payeng rannte zu den Dorfältesten und erklärte, er habe Angst, dass die Menschheit genauso enden würde. „Sei nicht albern!“, sei ihre Antwort gewesen; „das wird nicht passieren.“Doch Payeng wollte sich damit nicht zufrieden geben. Er hatte die Absicht, einen Wald anzulegen.
Also wandte er sich an die regionale Forstbehörde. Dort sagte man ihm, die Erosion mache das unmöglich, höchstens Bambus wachse auf der Sandbank. Also pflanzte Payeng die Setzlinge, die sie ihm gaben, und kehrte zurück, um sie zu wässern und zu beschatten.
Fünf Jahre lang unterstützte ihn die Behörde mit weiteren Arbeitern. Doch dann war das AufforstungsProjekt für die Bürokraten beendet, alle gingen ihrer Wege und vergaßen das Wäldchen. Alle außer Jadav Payeng.
„Niemand half mir“, sagt der heute 53-Jährige. „Niemand hatte Interesse.“Aber er blieb dran. Säte und goss die Pflanzen, hegte und pflegte sie – und transportierte Rote Ameisen in sein Wäldchen, weil er wusste, dass sie den Boden auflockern. „Sie haben mich oft gebissen“, erzählt er grinsend, „das war eine ganz besondere Erfahrung.“
2008, auf der Suche nach den Elefanten, traf der staatliche Forstbeamte Gunin Saikia Payeng zum ersten Mal. „Die Menschen, deren Hütten in den Nachbardörfern von den Elefanten zerstört worden waren, wollten den Wald abholzen“, erinnert er sich. Payeng, dessen Hütte im Wald die Tiere ebenfalls zertrampelt hatten, sagte, dass sie dafür zuerst ihn töten müssten. „Wir waren und sind sehr beeindruckt von seiner Haltung und davon, dass er 30 Jahre seines Lebens investiert hat.“
Payeng ist kein Kind reicher Eltern, im Gegenteil: Als Fünfjähriger kam er in die Obhut des Bezirksrichters im nahen Jorhat, weil seine Eltern ihn nicht ernähren konnten. Als er die Schule abschloss, waren sie schon verstorben. So übernahm er ihre kleine Kuh- und Büffelherde, von deren Milch er bis heute lebt. Die Bewohner seines Waldes schaden seinem Betrieb regelmäßig: „Zehn Schweine, 85 Kühe und 95 Büffel sind in den vergangenen 35 Jahren den Tigern zum Opfer gefallen“, hat er einem Reporter des Magazins „Weekend Leader“erzählt. „Sie haben halt keine Ahnung von Viehzucht“, sagt er lachend.
Tief beeindruckt von Payeng ist Julia Balogh (24) aus Göttingen. Vier Tage lang hat die engagierte Umweltschützerin ihn 2013 besucht, um die Doku „Der Herr der Bäume“zu drehen (bei YouTube zu finden). „Seine Geschichte ist die großartigste, die ich je gehört habe, und er selbst unglaublich bescheiden. Der Rummel um ihn interessiert ihn nicht, all seine Auszeichnungen verstauben in seiner Hütte.“Nie vergessen hat sie seinen Wunschtraum: Dass jedes Schulkind der Erde Bäume pflanzen sollte, und seien es nur einer oder zwei.
Damit Payengs Söhne Sanjiv und Sanjay sowie seine Tochter Munmuni auf eine weiterführende Schule
Nicht bloß ein Dutzend Elefanten hatten in dem Dschungel Schutz gesucht. Es waren
rund 100
Payeng hat sich geschworen, der Natur
noch bis zu seinem allerletzten Atemzug
zu helfen
gehen können, ist er 2011 umgezogen, weg von seinem Stall und seinem geliebten Wald.
Seitdem steht er um drei Uhr morgens auf. Erst nach anderthalb Stunden Fahrradfahrt und fünf Kilometern im Ruderboot kann er das Vieh melken und die Felder düngen. Wenn die Milch auf den Markt gebracht ist, beginnt gegen neun Uhr der angenehme Teil des Tages: durch den Wald streifen, umher zwischen Königinblumen und Kapokbäumen, Flammenbäumen und Albizien, Baheda und Banyan. Anund Umpflanzen, hier und da kosten von Mangos und Maulbeeren, Pfirsichen und Pflaumen, Datteln und Zimtäpfeln. Bis es Zeit ist zur Rückfahrt, die um 20 Uhr mit dem Abendessen bei seiner Frau Binita endet.
Payeng sagt von sich, er sei „der glücklichste Mensch der Welt“. Seine einstigen Mitschüler hätten teils Karriere gemacht, als Ingenieure etwa, und wohnten in schönen, großen Häusern. Er habe stattdessen das Privileg, der Natur zu helfen, Schatten und Schutz, Nahrung und Sauerstoff bereitzustellen – „für alle, Präsidenten und einfache Menschen, Diebe und Sünder inklusive“. Er hat sich geschworen, das auch weiterhin zu tun, bis zu seinem letzten Atemzug.