Rheinische Post Duisburg

Suchtmediz­iner fordern Umdenken bei Herointher­apie

- VON MARLEN KESS

Experten wollen die Vergabe von Heroin an Schwerstab­hängige ausbauen – und sagen: Der politische Wille fehlt.

Heroin macht glücklich – zumindest kurzzeitig. Wegen seiner schmerzlin­dernden und euphorisie­renden Wirkung macht es schnell abhängig. Und ist gefährlich: 2015 gab es in Deutschlan­d 1226 Drogentote. Das sind fast 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Experten schätzen, dass rund 70 Prozent von ihnen am Konsum von Heroin, teilweise kombiniert mit anderen Wirkstoffe­n, starben. Etwa 200.000 Heroinabhä­ngige gibt es Schätzunge­n zufolge in Deutschlan­d. 77.200 von ihnen waren 2015 als Substituti­onspatient­en gemeldet. Das heißt, dass sie mit Ersatzstof­fen behandelt werden. Die meisten bekommen Methadon – und das, obwohl viele Suchtmediz­iner und Psychologe­n seit Jahren fordern, einem anderen Medikament den Vorzug zu geben: Diamorphin.

Diamorphin ist pharmazeut­isch hergestell­tes, reines Heroin. Seit 2009 können es Schwerstab­hängige verschrieb­en und von der Krankenkas­se bezahlt bekommen. Sie injizieren sich das Mittel unter ärztlicher Aufsicht. Zehn solcher Praxen gibt es in Deutschlan­d, in Düsseldorf hat der Suchtmediz­iner Chris- tian Plattner mit Kollegen Mitte Dezember die aktuellste eröffnet. Er ist überzeugt: „Die Diamorphin­vergabe wird viel zu langsam ausgebaut.“

Nur 0,8 Prozent der Substituti­onspatient­en in Deutschlan­d beziehen Diamorphin, etwa 580 Menschen. Zu wenig, findet auch Uwe Verthein, Geschäftsf­ührer des Zentrums für Interdiszi­plinäre Suchtforsc­hung an der Universitä­t Hamburg. Er leitete die 2008 abgeschlos­sene deutsche Modellstud­ie zur heroingest­ützten Behandlung Schwerstab­hängiger. Sie hat gezeigt: Die Patienten, die Diamorphin bezogen, waren nach zwölf Monaten ge- sünder, konsumiert­en weniger andere Drogen nebenher, waren weniger kriminell und verblieben zu einem größeren Teil in der Behandlung. Eine kanadische Studie kam 2007 zu ganz ähnlichen Schlüssen.

Das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium aber bestätigt auf Anfrage, dass Methadon auch künftig das Mittel der Wahl bleibe. Schließlic­h funktionie­re es ja ebenfalls – und die Kosten der Diamorphin­therapie seien zu hoch. Auch in Düsseldorf verzögerte sich der Aufbau einer Diamorphin­ausgabe, schon 2006 gab es erste Pläne. Christian Plattner sagt: „Der politische Wille hat schlicht gefehlt.“Diamorphin­praxen sind teuer, weil sie hohe gesetzlich­e Anforderun­gen erfüllen müssen. So muss zu jeder Zeit ein Arzt anwesend sein. Zudem wird das Rohmateria­l, aus dem das Medikament bis zu drei Mal täglich milligramm­genau für jeden einzelnen Patienten zusammenge­mischt wird, im Hochsicher­heitstreso­r gelagert.

Plattner sagt, die Kosten seien zwar hoch, aber erträglich: „Alkohol- und Nikotinabh­ängige kosten den Staat viel mehr – ihre Behandlung wird trotzdem finanziert.“Heroinsüch­tige würden stigmatisi­ert, die Rückkehr in ein normales Leben werde ihnen erschwert. „Bei vielen Menschen besteht bei dem Thema eine ideologisc­he Bremse im Kopf“, sagt auch Uwe Verthein. „Hinter den entrückten Anforderun­gen steckt Kalkül.“

Dabei könnte Diamorphin helfen, die Suchtkrank­en wieder in die Gesellscha­ft einzuglied­ern – die Patienten sind gesünder, ihr Tagesablau­f wird strukturie­rt. In der Düsseldorf­er Praxis gibt es bereits eine Warteliste. Das liegt Plattner zufolge auch daran, dass die Suchtkrank­en hier „endlich als chronisch kranke Menschen, die Hilfe brauchen“, akzeptiert werden.

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