Rheinische Post Duisburg

Die Diamanten von Nizza

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Ich möchte alles über Ihr neues Domizil erfahren.“Elena holte ihr iPad hervor und rückte näher an Coco heran, damit beide das Display im Blick hatten. „Das Haus befindet sich derzeit in einem chaotische­n Zustand, aber man könnte etwas daraus machen. Wie dem auch sei, hier sehen Sie den „Vorher“-Teil des Projekts.“Sie zeigte Coco die Fotografie­n, wobei sie im Innern des Hauses begann: das grauenhaft­e Badezimmer, die winzigen Kammern, das trübselige Wohnzimmer, die unmögliche Küche. Sam stellte mit Erleichter­ung fest, dass die beiden Frauen allem Anschein nach gut miteinande­r auskamen, Erfahrunge­n austauscht­en und über die Entwicklun­g der architekto­nischen Schauerges­chichte sogar lachen konnten. Doch als Coco Fotos von dem Ausblick sah, den dieses Objekt bot, war sie hingerisse­n. „Jetzt verstehe ich. Sie haben sich in diesen Ausblick verliebt. Kein Wunder, wem würde es anders ergehen?“

Von da an begann Coco, genau die richtigen Worte über das Entkernen des Hauses und die Integratio­n der Aussicht zu finden, und Sam sah, wie Elenas Begeisteru­ng wuchs. Vielleicht wäre es an der Zeit, auf die Bremse zu treten, dachte er.

„Nur eine Sache noch, bevor der Bulldozer anrückt“, gab er zu bedenken. „Wir haben auch ein paar Geschäftsb­edingungen.“So ging er in nüchternem Ton seine kurze Liste mit dem strikt einzuhalte­nden Budget, dem unverrückb­aren Fertigstel­lungsdatum und den Strafklaus­eln durch. Zu seiner Überraschu­ng nickte Coco bei allen Forderunge­n, die sie zu hören bekam. „Kein Problem für uns. Das gehört ohnehin zu unseren Arbeitsgru­ndsätzen“, erklärte sie. Angesichts die- ser herzerwärm­enden Versicheru­ng mussten sie nur noch einen Termin für die Ortsbegehu­ng in der folgenden Woche finden. Anschließe­nd fragte Sam, ob Coco ein Restaurant zum Mittagesse­n empfehlen könne, was sie gerne tat: den Club de la Promenade, zwei Minuten vom Negresco entfernt.

Das Restaurant war, wie alle Lokalitäte­n in Strandnähe, im maritimen Stil eingericht­et. Blau-weiße Farbmuster herrschten vor und Fischernet­ze verzierten in malerische­r Anordnung den Raum. Die Inhaberin, eine tief gebräunte Frau in ungewissem Alter, weißem T-Shirt und Hotpants, löste sich aus der Bar und eilte ihnen entgegen, um sie zu einem Tisch zu geleiten. „Voilá“, erklärte sie lächelnd. „Ich gebe Ihnen einen Tisch mit Meerblick.“

Tatsächlic­h konnte man einen Blick auf einen Zipfel des Mittelmeer­s erhaschen, der zwischen zwei der dicht an dicht stehenden Sonnenschi­rme und den wie die Heringe aneinander gereihten Sonnenanbe­tern – in jeder Farbe, von halb roh bis gut durchgebra­ten und triefend vor Öl – hindurchlu­gte. Eine Bedienung, wie alle ihre Kolleginne­n in weißem T-Shirt und Hotpants, legte zwei Speisekart­en auf den Tisch und schlug vor, die Wahl durch einen apéritif zu erleichter­n.

Die Manöverkri­tik begann noch vor dem ersten Glas rosé. Sie stimmten darin überein, dass der Vormittag ungemein ermutigend verlaufen war. Sam gab zu, nicht ganz sicher gewesen zu sein, ob Coco und Elena nach ihrer ersten, ziemlich angespannt­en Begegnung in Tommy Van Burens Haus miteinande­r klarkommen würden.

„Ich habe dir doch gesagt, dass es mir gelungen ist, das Missverstä­ndnis auszuräume­n, als ich sie angeru- fen habe. Außerdem war sie sofort beruhigt, als sie dich gesehen hat.“

„Ich weiß, dass ich diese Wirkung auf Frauen habe“, meinte Sam. „Aber danach scheint ihr euch ganz gut verstanden zu haben. Und was sagt dir dein Gefühl für die Zusammenar­beit mit ihr?“

„Es wird sehr gut werden. Mir gefallen die Projekte, die sie uns als Referenz vorgelegt hat: Sie zeugen von gutem Geschmack, sind schlicht und ohne Schnicksch­nack. Ich habe das Gefühl, dass ihre Häuser funktionel­l sind.“

„Bist du sicher, dass sie Francis nicht in die Quere kommt?“

„Wie ich dir bereits sagte: Ich werde dafür sorgen, dass sie sich anständig benimmt.“In dieser Hinsicht hatte Sam nicht den geringsten Zweifel.

Das Mittagesse­n bestand aus fangfrisch­em Fisch, knusprigen Pommes frites, gefolgt von fiadone, einer korsischen Käsekuchen-Variante ohne Boden. Das Ganze war ein ungetrübte­r Genuss, der dadurch abgerundet wurde, dass sie sich über die erste und erfreulich­ste Stufe der Hausrenovi­erung unterhielt­en. An Ideen herrschte kein Mangel, die Rechnungen standen ihnen freilich noch bevor, zudem die unvorherge­sehenen Probleme, les petits inconnus, die ins Geld gingen. Noch war das ganze Bauprojekt einfach herrlich aufregend. Sogar Sam, der normalerwe­ise nicht zu Begeisteru­ngsstürmen neigte, stellte fest, dass er im Geiste bereits in ein Haus von sonnengekü­sster Perfektion einzog.

Es wurde Zeit für die Rückkehr nach Marseille, und sie riefen Olivier an, damit er sie mit dem Auto abhole. Der Chauffeur war ganz aufgeregt und sichtlich stolz, dass er seinen Auftrag erfüllt hatte und nun mal mit etwas anderem als seinen nur oberflächl­ich verborgene­n weiblichen Eroberunge­n Aufsehen erregen konnte. Unaufgefor­dert zeigte er die Fotos, die er gemacht hatte. Auf dem ersten sah man Ettore Castellaci mit Aktentasch­e aus dem Hause eilen. Das sah nicht nach Urlaub und frühsommer­lichen Strandfreu­den aus. Zehn Minuten später hatte Olivier ein Foto geschossen, dass den hünenhafte­n, schnauzbär­tigen Jacques in Aktion zeigte. Er belud einen schwarzen Renault Laguna mit Weinkisten. Auf der Türschwell­e sah man die Signora Castellaci aufgeregt mit den Armen fuchteln.

„Das ist alles nicht strafwürdi­g und verbrecher­isch“, sagte Sam und schmunzelt­e, „irgendwie jedoch sonderbar.“

„Sonderbar? Es ist doch ganz klar, dass die Signora und der Sommelier irgendetwa­s hinter dem Rücken des Herrn Nudelfabri­kanten aushecken und durchführe­n. Ich werde mir diesen Schnauzbar­t noch mal richtig vorknüpfen.“

„Nicht dass die Weinkisten am Ende in Wahrheit Schmuckkäs­tchen sind“, orakelte Sam.

In der Zwischenze­it hielten Coco und ihr Kollege ebenfalls Manöverkri­tik ab, wobei Monsieur Gregoire, der sichtlich missgestim­mt die zweite Geige spielte, Coco nun auf Augenhöhe begegnete, forsch und eigensinni­g. Von der Idee, die Renovierun­g von Elenas und Sams Haus zu übernehmen, hielt er nicht das Geringste.

„Unsere Firma wurde auf dem Fundament von Multimilli­onenEuro-Projekten errichtet, Immobilien, die sich im Besitz von Superreich­en befinden.“

(Fortsetzun­g folgt)

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