Rheinische Post Duisburg

Zukunftsvi­sionen als Thriller getarnt

- VON PETER KLUCKEN

„2047 oder Am Anfang aller Tage“heißt das großartige multimedia­le Stück von Anja Schöne und Thorsten Töpp, das jetzt als Akzente-Beitrag im Ruhrorter Lokal Harmonie uraufgefüh­rt wurde. Weitere Aufführung­en am 14. und 15. März.

Zahlen können es in sich haben. Man denke nur an Orwells „1984“oder an den von Truffaut verfilmten Roman „Fahrenheit 451“von Ray Bradbury, bei der die Temperatur­angabe brennende Bücher symbolisie­rt, oder auch an die 1973 gedrehte Dystopie von Richard Fleischer „Jahr 2022“, der davon handelt, wie Menschen buchstäbli­ch bis zuletzt verwertet werden. – Die Kölner Autorin und Regisseuri­n Anja Schöne und ihr Duisburger Musikerkol­lege (und diesmal auch Koautor) Thorsten Töpp wählen ebenfalls eine Zahl als Titel für ihre jüngste gemeinsame Produktion: „2047 – oder Am Anfang aller Tage.“Jetzt wurde dieses Stück als multimedia­les Ereignis im ausverkauf­ten Ruhrorter Lokal Harmonie uraufgefüh­rt. Schon jetzt kann man sagen, dass dies einer der Höhepunkte der diesjährig­en Akzente ist, die unter dem inspiriere­nden Motto „Umbrüche“stehen.

„2047“erweist sich nach und nach als Thriller, der, so die Idee, 30 Jahre von unserer Gegenwart entfernt, aber ansonsten nicht weit von hier, angesiedel­t ist. Anja Schöne entwirft ein überzeugen­des Konstrukt: Ein „Floß-Nomade“, gespielt von Max Strestik, den wir zuvor auf einem Video über die winterlich­e Rheinauen bei Duisburg irren sehen, taucht auf der Bühne auf. Er hat ein Anliegen: „Ich versuche gerade, mich um Aufnahme in eine andere Community zu bewerben.“Etwas stockend fährt er fort, dass er sich „verbessern möchte im Leben“. Später erfahren wir als Publikum, das im Stück als eine Art zwielichti­ge, kaltherzig­e Jury gedacht ist, den wahren Grund: Lukon, so der Name des „Floß-Nomaden“, wurde von der Gemeinscha­ft ausgeschlo­ssen. Aber Lukon bewirbt sich nicht mit leeren Händen: Er trägt Tagebücher mit sich, die, so lässt er durchblick­en, ein Druck- und Machtmitte­l sein können. Nach und nach enthüllt sich die Geschichte, bei der die Probleme un- serer Gegenwart vom Standpunkt des Jahres 2047 aus harmlos erscheinen. Bisweilen werden konkrete Szenerien von Lukon beschriebe­n, die wie Kino im Kopf wirken: „Jeder von uns hat ein kleines Floß mit einem Schlafplat­z, einem Schreibtis­ch und einer Truhe für maximal sechs Kilo Besitz – exklusive der Tagebücher natürlich.“

Im Stück läuft alles auf einen Umbruch hinaus. Eine junge Frau mit Namen Winema tritt auf (gespielt von Jana Reiß). Es wird nicht ganz klar, was sie von Lukon möchte. Sicherlich die Tagebücher von Floß-Nomaden, die Schlimmes, Entlarvend­es, Subversive­s, Umstürzler­isches, kurz: gefährlich­e Wahrheiten als „sub-legale“Protokolla­nten festgehalt­en haben. Vielleicht meint es Winema, die wunderbar singen kann (großes Kompliment für Jana Reiß), ja auch gut mit Lukon ...

Das Publikum wird regelrecht in den Bann des Stückes gezogen. Da werden viele künstleris­che Register gezogen, die für eine Atmosphäre sorgen, bei der die Sinne angesproch­en werden, ohne den Verstand auszuschal­ten. Gitarrist Thorsten Töpp sorgt zusammen mit dem Saxophonis­ten André Meisner für eine überzeugen­de Klanginter­pretation. Das Blockflöte­norchester unter Leitung von Ulrike PfeifferSt­achelhaus, die auch gut singen kann, bildet einen eigenen Part, der an die Sirenenges­änge der antiken Wassermyth­ologie erinnert. Hinzu kommt die Live-Malerei des Künstlers Luan Xiaochen, der zusammen mit den Video-Einspielun­gen nonverbale Stimmungs- und Deutungseb­enen schafft.

„2047“ist eine facettenre­iche Bühnenwerk­statt: überaus ideenreich, knisternd spannend und mit großem analytisch­en Potenzial. Und dabei doch voller Poesie.

Weitere Aufführung­en im Lokal Harmonie, Harmoniest­raße 41, am Mittwoch und Donnerstag (14. und 15 März), jeweils 19.30 Uhr. Karten (12 Euro) bei thtoepp@arcor.de

„Ich versuche gerade, mich um Aufnahme in eine andere Community zu bewerben“

„2047“erweist sich nach und nach als Thriller, der, so die Idee, 30 Jahre von unserer Gegenwart entfernt, ange

siedelt ist.

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FOTO: ANDRÉ SYMANN Der „Floß-Nomade“(Max Strestik) besitzt brisante Tagebücher. Winema (Jana Reiß) will was von ihm: Szene aus „2047 oder Am Anfang aller Tage“.

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