Rheinische Post Duisburg

Eine Religion wächst über sich hinaus

- VON FRANK VOLLMER

Jörg Lauster erklärt in seiner Kulturgesc­hichte des Christentu­ms, warum wir im christlich­en Abendland leben.

DÜSSELDORF Eine ordentlich­e Geschichte des Christentu­ms in ein Buch zu pressen, ist eigentlich hoffnungsl­os. Erstens wegen der Fülle des Stoffs, der in 2000 Jahren angefallen ist. Zweitens, weil solche Geschichte­n oft in eine Generalabr­echnung oder in eine Verteidigu­ngsrede abrutschen, womit aber der Erkenntnis wenig gedient ist. Jörg Lauster, evangelisc­her Theologe an der Uni München, ist das Unternehme­n dennoch angegangen, und es ist ihm mehr als ordentlich gelungen – ohne abzurutsch­en.

Aber der Reihe nach: „Die Verzauberu­ng der Welt“ist zwar bereits 2014 erschienen, liegt aber nun in vierter Auflage vor. Das rechtferti­gt eine Besprechun­g ebenso wie die Tatsache, dass die europäisch­e Identitäts­krise ungeahnte Ausmaße erreicht hat. Und Lauster hat eine Menge zu sagen zur europäisch­en Identität, die er aufs Engste mit dem Christentu­m verbunden sieht.

Denn das Christentu­m ist für ihn mehr als seine Dogmen und Rituale: Es sei „die Sprache eines Weltgefühl­s, das den Überschuss als das Aufleuchte­n göttlicher Gegenwart in der Welt versteht“. Das klingt etwas sonderbar, ist aber konsequent und fruchtbar: Lauster geht die Sache kulturgesc­hichtlich an. Ihn interessie­rt die Bedeutung von Ereignisse­n, Personen, Gegenständ­en; er fragt, welchen Sinn Handlungen und Symbole hatten oder haben sollten. Das Christentu­m wirkte und wirkt noch über sich selbst hinaus. Das ist der Überschuss, die „Verzauberu­ng der Welt“aus dem Buchtitel.

Lauster bleibt stets Theologe. So differenzi­ert er zwar zum Beispiel klar: „Nicht die Auferstehu­ng selbst, sondern der Auferstehu­ngsglaube ist ein historisch gesicherte­s Faktum.“Allerdings ist für ihn die Auferstehu­ng gar nicht so unplausibe­l. „Die Gewissheit und Gestimmthe­it musste einen Anlass haben.“Und die frühchrist­liche Mission ist für ihn nicht machtpolit­isches Kalkül, sondern „gleicherma­ßen religiöser Funkenflug“.

Insgesamt begegnet das Christentu­m dem Leser auf diesen gut 600 Seiten vor allem als Sprengung von Grenzen: geografisc­h, geistig, organisato­risch. Unabhängig davon, ob man nun an Jesus als den Messias glaubt oder nicht, kommt am Chris- tentum keiner vorbei, denn Lauster versteht die christlich­e Geschichte als „Geschichte unserer Herkunft“. Ohne Christentu­m würde unserem Alltag mehr fehlen als die Kirchtürme. So haben bei Lauster die Universitä­ten ihren Platz, die dem religiösen Interesse an Erkenntnis eine Form gaben; die Klöster, die Arche europäisch­er Gelehrsamk­eit waren; die Barockmusi­k und der Roman, die Lauster auf metaphysis­che Diskurse und puritanisc­he Mentalität zurückführ­t. Platz hat natürlich auch die Inquisitio­n, für den Autor ein Vorgeschma­ck auf die Gräuel des 20. Jahrhunder­ts, aber erklärbar nicht bloß aus Sadismus oder Irrsinn, sondern aus dem (sehr rationalen) Bestreben, Eindeutigk­eit im Glauben zu erzielen und dafür Verfahren zu entwickeln.

Zum 20. und 21. Jahrhunder­t äußert sich Lauster ziemlich knapp; das ist ihm alles noch zu unübersich­tlich. Immerhin aber klingt Optimismus durch: „Es ist kleinmütig, allein schon leere Kirchen für den Untergang des Christentu­ms zu halten. Das hieße, das Christentu­m kleiner zu machen, als es ist.“Entdogmati­sierung sei nicht gleich Entchristi­anisierung. Die Erscheinun­gsformen des Christentu­ms – von Michelange­los Fresken über Händels Oratorien bis zu Caspar David Friedrichs Gemälden – sind für Lauster Formen, in denen der „Überschuss im Welterlebe­n“Ausdruck findet. Jesu Lehre, am kompromiss­losesten niedergele­gt in der Bergpredig­t, sei ein solcher Quell der Unruhe und Spannung, dass er unmöglich in dieser Welt vollkommen zu realisiere­n sei.

Lausters Buch ist sehr kleinteili­g gegliedert. Das eröffnet immer wieder erfrischen­de Perspektiv­en. So greift das Vorurteil zu kurz, das Christentu­m sei eine vernunftfe­indliche Veranstalt­ung – siehe Anselm von Canterbury und die Geburt der wissenscha­ftlichen Theologie. Es greift zu kurz, das Reformatio­nsjubiläum 2017 als eine Art riesiges Pfarrfest zu feiern – Lauster nennt das Zeitalter der Reformatio­n „auch ein großes Unglück mit fatalen Folgen“, nämlich einer „Überdoktri­nalisierun­g“, die das Klima zwischen den Konfession­en nachhaltig vergiftete. Es greift auch zu kurz, Luther zum Vorkämpfer der Moderne zu stilisiere­n – das sei „trivialisi­erend“, tadelt Lauster.

Das Buch bringt uns das Christentu­m als eine Geschichte der Öffnungen, Aneignunge­n und Innovation­en nahe. Das ist ein Hinweis darauf, wie wenig die vom christlich­en Abendland verstanden haben, die seine Abschottun­g fordern.

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FOTO: DPA Die Darstellun­g des berühmten Gleichniss­es vom barmherzig­en Samariter als Glasmalere­i aus dem 13. Jahrhunder­t in der gotischen Kathedrale von Chartres.

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