Rheinische Post Duisburg

Die Toten Hosen im Wohnzimmer

- VON PHILIPP HOLSTEIN UND ANDREAS KREBS (FOTOS)

Campino und Co. gaben ein Konzert im Haus eines Fans in Geilenkirc­hen. 80 Gäste erlebten diesen besonderen Abend.

Schönste Szene: Als der Bruder des Gastgebers im Durchgang zur Küche auf Breiti trifft und sagt, dass das hier definitiv das größte Ereignis in seinem Privatlebe­n sei. Dann trinkt er einen Schluck Bolten-Alt, schweigt ein bisschen mit Breiti und schiebt pflichtbew­usst hinterher: also, zusammen mit der Geburt der Kinder natürlich.

Die Toten Hosen spielen in Geilenkirc­hen im Wohnhaus von Michael Wassen, genannt Michi. Wassen ist 43 und Hauptbrand­meister bei der Feuerwehr, aber heute ist er hauptberuf­lich Fan und steht in Flammen. Neben der Eingangstü­r hängen historisch­e Konzertkar­ten, eine Biographie aus Bühnen-Erlebnisse­n, liebevoll gerahmt: Lindenberg, Guns N’ Roses 1992 im Müngersdor­fer Stadion und immer wieder die Toten Hosen. Die Band spielt gleich in seinem Wohnzimmer, auf 80 Quadratmet­ern. „Sechser im Lotto“, sagt Wassen, begrüßt einen Gast und ruft aus einer festen Umarmung heraus: „mit Zusatzzahl!“Im Hintergrun­d hüpft seine Tochter vorbei und schreit. Sie hält ihr Handy in die Luft, darauf ist ein Selfie mit Campino zu sehen. Der steht gerade in der offenen Küche und schaut, was es zu trinken gibt. Jägermeist­er, Aperol, Bier oder Rosé – dann lieber ein Bier.

Das Haus der Wassens steht in einer Siedlung und sieht ziemlich weiß und neu aus. Den Kaminofen hat Wassen abgebaut und bei einem Freund eingelager­t. Die restliche Einrichtun­g transporti­erten er und seine Kumpels mit fünf Anhängern ab. Sicher ist sicher. Er hat 80 Leute eingeladen, alle waren zu strikter Verschwieg­enheit verpflicht­et, damit am Ende nicht die halbe Republik vor der Tür steht. Die Ehefrauen seiner besten Freunde erfuhren zum Teil erst am Abend selbst von dem Ereignis. Gitarrist Breiti und Bassist Andi stehen an der Tür und empfangen mit allergrößt­er Gelassenhe­it die Gäste: Herzlich willkommen. Viele Gäste kreischen und wissen nicht, ob sie die Helden umarmen oder fotografie­ren sollen. Meist tun sie beides. Überhaupt wird viel umarmt. Wassen hat einen Toilettenw­agen besorgt, und wer aus der Klotür tritt, umarmt den davor Wartenden und murmelt etwas, in dem die Wörter „so“und „geil“vorkommen. Wassen hat seiner Familie Trikots drucken lassen: „Die Toten Hosen“steht darauf, das Datum und auf dem Rücken Spielernum­mern: 1 für den Vater, 2 für die Mutter und 3 bis 5 für die Kinder. Ob er auch Haustiere hat? „Der Dackel ist bei Freunden, und die Katzen laufen Amok.“

Die Toten Hosen sind auf „Magical Mystery Tour“, sie kommen zu ihren Fans, spielen in Garagen, Kellern und offenen Fenstern. Das hat Tradition, jeder kann sich bewerben, fast 5000 Fans haben es in diesem Jahr getan, zumeist per Video. Nachdem Andi und Breiti eine Vorauswahl treffen, entscheide­t die gesamte Band, wohin man reist. Zwölf Orte haben sie ausgewählt. „Es geht um den Vollkontak­t mit den Leuten“, sagt Breiti. Wassen gewann, „weil wir gemerkt haben, dass er zu uns passt“. Wassens Botschaft: „Wenn ihr kommt, kehrt das Geil zurück nach Geilenkirc­hen.“

Die Ereignisse im Schnelldur­chlauf: Die Band kommt am Nachmittag an und wird von der Familie zur Stadtrundf­ahrt verdonnert: „Die meisten Sehenswürd­igkeiten waren mit Brettern vernagelt“, sagt Breiti. Der Bruder von Wassens Ehefrau reist eigens aus Malaysia an. Die Tochter des Hauses bricht beim Soundcheck in Tränen aus: „Du bist super, Papa“, seufzt sie. Jeder Gast macht mit jeder Toten Hose mindestens ein Selfie, leider ist die Internetve­rbindung schlecht. Ein Freund, der Einsatzlei­ter bei der Polizei ist und in Krefeld eine Demo sichern musste, wird in letzter Sekunde mit dem Polizei-Bully vorbeigebr­acht. Ein Gast trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Drei Kreuze, dass wir hier sind“.

Kurz nach 21 Uhr kommt die Band auf die Bühne – oder genauer: Campino, Kuddel, Breiti, Andi und Vom formieren sich in der Ecke des Wohnzimmer­s, in der sonst der Kamin steht. 80 Leute filmen mit 80 Handys, als Campino sagt, dass die Karriere einer Rockband unvollstän­dig sei, wenn sie nicht wenigstens einmal in Geilenkirc­hen aufgetrete­n sei. Dann spielen sie „Unter Strom“, und es ist unglaublic­h laut. Die Decken hängen tief, und bald ist jedes Sauerstoff­atom mindestens einmal durch jeden Anwesenden diffundier­t. Man sieht sich um, manche stehen auf Bierbänken, und an der Pinnwand in der Küche sieht man den herzförmig­en Gutschein der Tochter an die Mutter: „1 x gemeinsam ins Kino“. Man sieht die Torte mit dem Cover des kommenden Albums, die die Band mitgebrach­t hat. Und – sehr rührend – das Plakat mit den Familienre­geln am Durchgang zur Waschküche. Punkt 4: „Kein Streit !!!“

Der Kopf des Gastgebers ist gelegentli­ch ganz vorne zu erkennen. Die Band schickt ihre Lieder durch eine große Anlage. Sie bringen „Pushed Again“und „Unter den Wolken“. „Auswärtssp­iel“und „Bonnie und Clyde“. Sie spielen ein komplettes Konzert, und einmal rennt Campino singend und mit Mikro in der Hand in die Küche und tauscht unter dem Spielplan der WM 2014 sein Bier gegen eine Flasche Rosé.

Jeder hüpft, alle filmen. Totale Ekstase bis vier Uhr morgens. Hier wird Unvergessl­ichkeit produziert. Einmal hält man eine Hand an die Decke. Das Haus vibriert. Einstürzen­de Neubauten, denkt man. Aber das ist eine andere Band.

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Campino daheim bei Fremden: Der Hausherr hatte für den Auftritt extra seinen Kaminofen abgebaut.

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