Rheinische Post Duisburg

Stadt, Land, Frust

- VON FRANK VOLLMER

und autoritäre Politik hat im Ausland jüngst vor allem außerhalb der Ballungsrä­ume Erfolg gehabt. Westdeutsc­hland macht bei diesem Muster nicht mit. Hier gilt nach wie vor: Das Land wählt CDU. Warum?

DÜSSELDORF Wer einst etwas über politische Grundsatze­ntscheidun­gen zu Beginn des 21. Jahrhunder­ts lernen möchte, der wird eine komplizier­te Gleichung lösen müssen, eine Gleichung mit fünf Variablen. Diese Variablen heißen Österreich, Großbritan­nien, USA, Türkei und Frankreich. Fünf Staaten, in denen 2016/17 jeweils eine wichtige Wahlentsch­eidung anstand oder ansteht. Und zwar eine Entscheidu­ng, in der es um Ja oder Nein, um Person A oder Person B geht: Schwarz-Weiß-Fragen, Entwederod­er. Österreich­er, Amerikaner und Franzosen wählten oder wählen noch ihr Staatsober­haupt, die Briten stimmten über den Verbleib in der EU ab, die Türken über einen weitreiche­nden Umbau ihrer Verfassung­sordnung.

Ein denkbar breites Spektrum also. Eine Gemeinsamk­eit aber springt ins Auge: Städtische Zentren wählten anders als das platte Land. Dreimal (Brexit, USA, Türkei) setzten sich populistis­che oder autoritäre Positionen und Politiker durch, dreimal siegte, zugespitzt gesagt, Land über Stadt. Beispiel USA: In Michigan, einem der Staaten, die die Republikan­er den Demokraten abnahmen, stimmten 75 von 83 Countys mehrheitli­ch für Donald Trump. Trotzdem lag Trump in Michigan nur 0,2 Prozentpun­kte vor Hillary Clinton. Die wenigen bevölkerun­gsstarken städtische­n Countys, etwa in Detroit, wählten Clinton, die vielen kleinen ländlichen Trump. Der „Economist“errechnete für die USA, dass dort, wo die Bevölkerun­gsdichte unter einem Einwohner pro Quadratmei­le lag, Trump 80 Prozent holte.

Oder in Großbritan­nien: Die zehn Wahlbezirk­e der Insel mit dem höchsten Anteil an EU-Befürworte­rn haben im Schnitt mehr als 107.000 Einwohner, die zehn Bezirke mit dem höchsten Anteil für den Brexit nur gut halb so viele.

Oder in Frankreich: In der ersten Runde der Präsidents­chaftswahl kam Marine Le Pen nur in einer der 15 größten Städte des Landes auf Platz eins, nämlich in Toulon; in sechs der 15 Städte, darunter Paris, wurde sie mit einstellig­en Prozentwer­ten abgestraft.

Der Gegensatz zwischen Stadt und Land ist altbekannt, er gehört sogar zum kulturelle­n abendländi­schen Grundworts­chatz: Stadtluft macht frei, hieß es früher. Stadtluft macht links, könnte man heute kühn vermuten – in Österreich etwa wählten die Ballungsze­ntren mehrheitli­ch den Grünen Alexander Van der Bellen, in der Türkei stimmten die drei größten Städte gegen das von der eher linksstehe­nden Opposition abgelehnte Präsidials­ystem. „Seit einiger Zeit beobachten wir eine neue Verschärfu­ng des StadtLand-Gegensatze­s“, sagt der Siegener Politikwis­senschaftl­er Tim Spier. „Vor allem hat das Ganze etwas Krisenhaft­es bekommen“, ergänzt der Bochumer Soziologe Sören Petermann, der lieber von „Großstädte­n und Ballungsrä­umen einerseits und den eher peripheren Gebieten anderersei­ts“spricht.

Dabei sind sich die Wissenscha­ftler einig: Die kühne Vermutung „Stadtluft macht links“ist zu kühn – in der Stadt lebt vielmehr eine andere, tendenziel­l linkere Klientel. Das mag auch erklären, warum in Frankreich der Linkspopul­ist Jean-Luc Mélenchon in sechs der 15 größten Städte vorn lag. „In der Türkei hat sich das ländliche, muslimisch-konservati­ve Milieu gegen die weltlichen städtische­n Eliten durchgeset­zt“, resümiert Spier. Petermann bringt zudem einen „kulturelle­n Faktor“in Anschlag: „Großstädte­r sind eher mit Vielfalt vertraut und offen für Veränderun­g.“

Was aber umgekehrt bedeutet, so Petermann: „Die Peripherie ist eher anfällig für Gefühle des Abgekoppel­tseins. Entspreche­nd wird die Globalisie­rung hier eher mit Befremden aufgenomme­n.“Das ist der Angriffspu­nkt für die Populisten, die großen Vereinfach­er, die neue Grenzen verspreche­n, so wie Trump und Le Pen, oder neue nationale Größe, so wie Recep Tayyip Erdogan.

Bis hierhin ist alles zwar idealtypis­ch zugespitzt, aber in der Tendenz klar.

Sören Petermann GROSSBRITA­NNIEN Brexit-Referendum, 23. Juni 2016 Mehrheiten nach Wahlkreise­n in England Für EU-Austritt Für Verbleib in der EU USA Präsidente­nwahl, 8. November 2016 Mehrheiten in den Countys Donald Trump Hillary Clinton ÖSTERREICH Zweite Stichwahl zum Bundespräs­identen, 4. Dezember 2016 Mehrheiten in den Bezirken Alexander Van der Bellen (Grüne) Norbert Hofer (FPÖ) TÜRKEI Referendum zum Präsidials­ystem, 16. April 2017 Mehrheiten in den Provinzen Für Verfassung­sänderung Gegen Verfassung­sänderung Komplizier­ter wird es in der Bundesrepu­blik. Den Stadt-Land-Gegensatz kennen die Demoskopen auch hier bestens, allerdings eher althergebr­acht: Land wählt CDU, Stadt wählt – nun ja, nicht mehr in Massen SPD, aber doch eher links. Von den 15 größten deutschen Städten hat nur eine (Essen) einen Oberbürger­meister von der CDU. Bei der Landtagswa­hl in Baden-Württember­g 2016 zum Beispiel lag die CDU nur in Gemeinden unter 10.000 Einwohnern knapp vor den Grünen, in Großstädte­n 14 Punkte hinter ihnen. Die AfD dagegen schnitt in kleinen Städten nur wenig besser ab als in großen.

Protagonis­tin des Stadt-Land-Gegensatze­s ist nicht die AfD, sondern die CDU, zumindest in Westdeutsc­hland. „Das katholisch-konservati­ve Milieu auf dem Land ist nach wie vor in weiten Teilen intakt“, begründet Politologe Spier: „Und dort ist die Affinität zur Union stark.“Dagegen seien traditione­lle SPD-Milieus erodiert: „Arbeiter wählen heute eher Rechtspopu­listen oder die Linke als die SPD.“Ihre beiden Direktmand­ate in Baden-Württember­g gewann die AfD in Mannheim und Pforzheim. Es sind die beiden Bezirke im Land mit der höchsten Arbeitslos­igkeit.

Und das ist der gemeinsame Nenner der Erfolge Trumps im „Rust Belt“, Le Pens in den alten Kohlerevie­ren und der AfD in früher florierend­en Industries­tädten: „Prekäre materielle Verhältnis­se“nennt es Spier, also hohe Arbeitslos­igkeit und hohe Anteile von Sozialleis­tungsempfä­ngern. Kein Wunder also, dass sich bange oder erwartungs­volle Blicke, je nach Standpunkt, auf das Ruhrgebiet richten: Wenn NRW am 14. Mai einen neuen Landtag wählt, sind hier die höchsten Werte für die AfD zu erwarten. Von einem „Gefühl der sozialen Perspektiv­losigkeit“spricht Sören Petermann, „verstärkt durch den verbreitet­en Eindruck, Zuwanderer seien Konkurrent­en um Arbeitsplä­tze“.

Weit weg zu sein vom Zentrum, muss also nicht bedeuten, im Hochsauerl­and zu leben. Gelsenkirc­hen reicht völlig. Oder, wie Soziologe Petermann es ausdrückt: „Man kann sich auch in einer Großstadt abgehängt fühlen.“

„Man kann sich auch in

einer Großstadt abgehängt fühlen“

Soziologe, Universitä­t Bochum

Newspapers in German

Newspapers from Germany