Rheinische Post Duisburg

Das Heim, in dem alles begann

- VON JESSICA BALLEER

Ende der 1980er Jahre brachte ein Ehepaar aus dem Westerwald den Mut auf, ein Kind aus Indien zu adoptieren. Mit 28 Jahren hat nun Mario Tony Rötzel zum ersten Mal das Waisenhaus besucht, in dem seine Mutter ihn zurückließ.

KÖLN/NEU DELHI Im Januar 1989 bringt eine junge Inderin einen Sohn zur Welt. Ein Baby, mit dem sich die vermutlich unverheira­tete Frau überforder­t fühlt. Ein Baby, das sie nicht behalten kann – oder darf. Sie macht sich in Neu Delhi auf die Suche nach einem Ort, an dem sich liebevolle Hände um ihr Kind kümmern sollen. Sie klopft beim Waisenhaus der „Mother Teresa Missionari­es of Charity“an, gibt den wenige Tage alten Säugling namens Tony in die Hände der Nonnen. Und dann geht sie, ohne ihren Namen zu hinterlass­en. Auch deswegen ist dies nicht die Geschichte der jungen Frau, sondern die von Mario Tony Rötzel.

28 Jahre später ist der Tag gekommen. Schon immer hatte er diese Sehnsucht gespürt, einmal an den Ort zurückzuke­hren, an dem alles begann. Er habe die Reise lange vor sich hergeschob­en. Weil es ihm gut ging in Breitschei­dt, dem kleinen rheinland-pfälzische­n Dorf, in dem er aufwachsen durfte. Weil er Freunde hatte und Fußball spielen konnte. Weil er studierte und einen Job in Köln fand. „Vor meinem 30. Geburtstag wollte ich aber unbedingt nach Indien.“

Mario Rötzel ist keine Aufregung anzumerken. Weder am Kölner Hauptbahnh­of oder am Frankfurte­r Flughafen, noch neun Stunden später, als der junge Mann in Neu Delhi wieder indischen Boden betritt. Er trägt eine Kappe, schwarzes T-Shirt, Sonnenbril­le. Die Tatsache, dass er Socken in den Sandalen trägt, hätte ein Hinweis auf seine Herkunft sein können. Doch trotzdem fragen die Mitarbeite­r am Flughafen in der Landesspra­che Hindi nach seinen Dokumenten.

„Tscherman“, antwortet Mario Rötzel. Der Bundesadle­r auf seinem deutschen Pass gibt Aufschluss über seine Nationalit­ät. Und die pfälzische Aussprache des Wortes „German“über seine Heimat. Mario Rötzel sieht zwar indisch aus, doch er ist in Deutschlan­d aufgewachs­en und arbeitet heute in Köln, weil ein deutsches Ehepaar 1989 den Mut und die Güte aufbrachte, ein indisches Kind zu adoptieren.

Selbst auf dem Weg zu dem Waisenhaus wirkt er ruhig. „Ich mache mir nicht die Illusion, meine Mutter zu finden.“Erst als der Fahrer die letzte Kurve nimmt, den Motor abstellt und auf das Haus mit dem Schild „Missionari­es of Charity“zeigt, verfliegt seine Coolness.

Nonnen in blau-weißen Roben bitten ihn herein. Die katholisch­en „Missionari­nnen der Nächstenli­ebe“betreuen das Waisenhaus, von dem es landesweit viele mehr gibt. Die Schwestern sind freundlich und interessie­rt. Wie erwartet, kennt niemand den Namen der leiblichen Mutter. Als Rötzel erzählt, er arbeite als Elektroing­enieur bei der Deutschen Bahn, macht sich bei den Nonnen Erleichter­ung breit. Für sie sei das eine Bestätigun­g, wenn adoptierte Kinder als Erwachsene zurückkäme­n und wohlauf seien. Denn es bedeutet auch, dass sie die Babys einst in gute Hände, in eine gute Zukunft gegeben haben.

Mario Rötzel holt alte Fotos hervor, die die Nonnen und seinen deutschen Vater zeigen. Im September 1989 hatte er den Jungen abge- holt, weil der Kinderwuns­ch von ihm und seiner Frau lange unerfüllt blieb. Auch Schwester Angelette, die den Kleinen auf einem Foto im Arm hält und sein Geburtsdat­um auf den 28. Januar 1989 festgelegt hat, ist nicht da. Doch sie lebt und ist noch als leitende Kraft für die Waisenhäus­er der christlich­en Gemeinscha­ft aktiv. Die Nonnen geben Mario Rötzel die Telefonnum­mer der Schwester. Ob er sie anruft? „Ich denke nicht“, sagt er, legt den Zettel aber behutsam ins Portemonna­ie.

Die Nonnen erzählen, dass viele Adoptierte zu Besuch kommen. Adoptionen vermittelt die Institutio­n aber seit zwei Jahren nicht mehr. Die Regierungs­auflagen seien zu hoch, die Kontaktauf­nahme über das Internet zu einem Handel verkommen. Nicht das, was Mutter Teresa einst für Indien wollte: Abtreibung­en reduzieren und Waisen die Chance auf ein gutes Leben geben.

Die Zahl der Adoptionen ist in Deutschlan­d in den vergangene­n Jahren stark gesunken. Auch die aus Indien. Verbessert­e Lebensverh­ältnisse dort und strengere Auflagen hierzuland­e sind Gründe dafür. Das Statistisc­he Bundesamt erhebt die Adoptionsz­ahlen seit 1991. Laut Statistik sind 1992 insgesamt 168 Kinder aus Indien adoptiert worden. 2015 waren es nur neun. Etwa so viele, wie derzeit noch im Waisenhaus im Neu Delhi leben.

Die Schwestern führen Mario in die erste Etage. Es duftet nach Chapati-Brot und süßem Haferschle­im. Kinder spielen. Ein paar Spiele gibt es auch, mit einem deutschen Kinderzimm­er ist das aber kaum zu vergleiche­n. „Ziemlich sauber“, sagt der Gast nur. Er hat den Kindern Buntstifte mitgebrach­t. Die Kleinen bilden eine Traube um ihn, ein Junge stellt sich vor. Rahul ist elf, vielleicht zwölf Jahre alt. Mit großen Augen schaut er Mario Rötzel an, und man kommt nicht um den Gedanken herum, es sich vorzustell­en: Blickt Mario da in eine Vergangenh­eit, die ihm erspart blieb? Rahuls Zukunft scheint besiegelt. „Die Kinder bleiben bei uns und helfen später in der Mission“, sagt die Nonne. In der zweiten Etage werden behinderte Säuglinge betreut. Sie liegen in dem Schlafzimm­er, in dem auch Mario einst gewickelt wurde, geschlafen und geschrien hat.

Nach einer knappen Stunde ist es Zeit zu gehen. Die Schwester erzählt aber noch von einer Tradition: Immer dann, wenn ein Kind adoptiert wurde, hatten sie eine Kerze angezündet. Mario darf das auch diesmal tun. Als er die Kapelle verlässt, denkt er an seine Kindheit. Natürlich, sagt er, habe es auch mal Probleme gegeben. „Sprüche wegen der Hautfarbe gibt es nicht nur auf dem Dorf.“Ein Außenseite­r sei er aber nie gewesen, in dem 1000-Seelendorf, das seine Heimat wurde.

Das Auto wartet. Letzter Halt ist die Bar des Hotels, in dem sein deutscher Vater 1989 übernachte­t hatte. Mario bestellt ein Bier – wirkt erleichter­t und beschwert zugleich.

Die Nonnen geben Mario Rötzel die Telefonnum­mer ihrer Mitschwest­er.

Ob er sie anruft?

 ??  ?? Dokumente und Fotos aus dem Jahr 1989 hält Mario Rötzel (re.) in der Hand. Für die Waisenkind­er des Heims in Neu Delhi hatte er Buntstifte mitgebrach­t. Mit seinem Cousin Stefan (2.v.re.) ging er auf Spurensuch­e nach den eigenen Wurzeln.
Dokumente und Fotos aus dem Jahr 1989 hält Mario Rötzel (re.) in der Hand. Für die Waisenkind­er des Heims in Neu Delhi hatte er Buntstifte mitgebrach­t. Mit seinem Cousin Stefan (2.v.re.) ging er auf Spurensuch­e nach den eigenen Wurzeln.

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