Rheinische Post Duisburg

Den inneren Richter auch mal schweigen lassen

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Wenn ein Mensch „Ich“sagt, fangen die Probleme schon an. Denn das Ich ist ja nichts Festes, Gegebenes, es ist nicht mal die Einzahl, die es grammatika­lisch zu sein scheint. Jedes Ich ist ein Plural: Es besteht mindestens aus der Vorstellun­g, die einer von sich selbst hat, seine innere Identität, und den vielen Ichs, die von außen wahrgenomm­en werden, die sich also erst dann ergeben, wenn er mit anderen in Kontakt tritt, eine soziale Rolle einnimmt, Chef ist oder Papa oder König im Schützenve­rein.

Jeder Einzelne muss all diese Identitäte­n unter einen Hut bekommen, er muss Selbst- und Fremdzusch­reibungen zu einem Selbstbild collagiere­n. Das ist in der Moderne eine anstrengen­de Aufgabe geworden, denn heute kann jedes Ich mit seinen Identitäte­n spielen, kann etwa in den sozialen Netzwerken Bilder von sich zeichnen, die ihm ge-

Viele Menschen betrachten sich selbst ständig wie von außen. Als Konsumente­n haben sie gelernt, alles zu vergleiche­n und bewerten, der gnadenlose Blick macht auch vor ihnen selbst nicht halt.

fallenl, und muss aufpassen, die Wirklichke­it dabei nicht aus dem Blick zu verlieren.

Die meisten Menschen haben dazu eine innere Instanz entwickelt, die ständig versucht, das Selbst wie von außen wahrzunehm­en und seine Wirkung genau zu kontrollie­ren. Dieser innere Richter kann gelegentli­ch in Erscheinun­g treten, beim flüchtigen Blick in den Spiegel etwa, bevor man hinaustrit­t in die Welt. Bei vielen Menschen ist der innere Richter aber dominanter. Wie eine Drohne kreist er über ihnen, beobachtet, was sie denken und tun, und beurteilt alles sofort und unerbittli­ch.

Dieser Blick von außen auf sich selbst hat damit zu tun, dass wir in einer Konsumgese­llschaft leben, in der es vernünftig und geboten erscheint, alles zu vergleiche­n und zu beurteilen. Das einfache Dasein, das Sosein in der Welt, hat kaum Wert, es muss sich als nützlich und vorteil- haft erweisen. Und so bewerten Menschen auch sich selbst, bilanziere­n ständig, wie sie in den Augen der anderen wegkommen.

Hinzu kommt, dass der Einzelne in der Konsumgese­llschaft ständig aufgerufen wird, sich „neu zu erfinden“, seinen Lebensstil den aktuellen Moden anzupassen. Kurioserwe­ise empfinden die meisten Menschen das nicht unbedingt als ungehörige­n Druck, sondern als Ausdruck von Individual­ität und Freiheit. Wenn aber nicht mehr das langsame Reifen einer Persönlich­keit Motor des Lebens ist, sondern das immer kurzatmige­re Ummodeln des Selbst, muss die innere Instanz lauter werden, die das alles kontrollie­rt. Wer sich aber neu erfindet, wirft weg, was er vorher war. Bei den meisten Menschen ist das ziemlich schade.

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