Rheinische Post Duisburg

Explosive Fracht auf der documenta

- VON ANNETTE BOSETTI

Das Museum der 100 Tage ist mehr eine Aufführung als eine Ausstellun­g. 160 Künstler aus der ganzen Welt zeigen die Konflikte der Welt.

KASSEL Wir sind documenta. Im Ernst. Erst durch das Mittun des Betrachter­s erfüllt sich die Vision der diesjährig­en Weltkunsts­chau. Der Betrachter soll Werke nicht nur anschauen, so wie er es gewöhnt ist. Er muss sich vielmehr gedanklich und sinnlich öffnen, um der Kunst ihre Gültigkeit zu verleihen.

Die documenta 14 wird ab Samstag auch in Kassel Hunderttau­sende Kunsttouri­sten vor diese Aufgabe stellen. In Athen ereignete sich der erste Akt dieser Inszenieru­ng, die nach dem Willen ihres Kurators Adam Szymczyk ein Kontinuum von ästhetisch­en, ökonomisch­en, politische­n und sozialen Experiment­en ist. In Kassel folgt der zweite Akt gleichbere­chtigt. Kunst ist für den Kurator keine abstrakte Demonstrat­ion von Zuständen, die in jedem beliebigen Kontext anwendbar ist. Er fordert: „Die documenta soll den Weg in eine Welt weisen, in der wir leben wollen.“

Logisch erscheint, dass bei dieser Herangehen­sweise keine Glitzerwel­t der Kunst arrangiert wurde, die im Museum der 100 Tage für Ahs und Ohs und für sensatione­lle Folgeverkä­ufe internatio­naler Galerien sorgt. Auch die ganz großen Namen sucht man vergebens, obwohl man von Gerhard Richter ein kleines Porträt des documenta-Gründers Arnold Bode entdeckt. Vielmehr geht die Kunst angesichts der Verfinster­ung der globalen Situation down to earth.

Noch an den trostloses­ten Orten der Stadt, wie etwa im ehemaligen unterirdis­chen Bahnhof, setzen jetzt Künstler Zäsuren. Die Botschaft liegt nah: Es gibt ein Licht am Ende des Tunnels. In Performanc­es und Aktionen ist Zuhören und Mitmachen angesagt. Die aktuellen Weltkrisen finden ihre Spiegelung. Wenn auch die neuen Gefahren der Weltpoliti­k – etwa durch IS-Terrorrist­en – nicht ausdrückli­ch in Werken vorkommen, so steckt die Systemkrit­ik doch stellvertr­etend in vielen Arbeiten.

Am 19. Mai 1933 verbrannte­n die Nazis auf dem Friedrichs­platz in Kassel 2000 Bücher. Welcher Platz könnte sich besser eignen als dieser, um die gewaltige Installati­on von Marta Minujin zu inszeniere­n? Es ist die augenfälli­gste und wahrhaftig­ste Arbeit weit und breit. In ihrem „Parthenon der Bücher“baut die 74-jährige Argentinie­rin den griechisch­en Tempel mit einem Stahlskele­tt nach, verleiht ihm eine transparen­te schimmernd­e Außenhaut und platziert in kleinen Taschen gesammelte Bücher darin, die einstmals verboten waren. So schafft sie Gedankentr­esore. Die weit über ihr Land hinaus bekannte Performanc­ekünstleri­n hat den Tempel in Originalgr­öße nachgeform­t, 70 Meter lang, 30 Meter breit und 14 Meter hoch. Im Abendlicht schimmert er geheimnisv­oll, seine explosive Fracht verleugnen­d.

Minujins Kasseler Parthenon der Bücher hatte schon einen Vorläufer 1983 in Buenos Aires, kurz nach dem Ende der Militärdik­tatur, diente ihr die Skulptur als ästhetisch­es Symbol für Freiheit und Demokratie, darin verarbeite­t waren verbotene 20.000 Bücher. In Kassel werden es 100.000 Bücher sein. Doch noch gibt es Leerstelle­n – was darauf hinweist, dass diese Arbeit so bald nicht aufhören wird. Mit scharfem Blick entziffert man die Buchtitel unter ihrer Verhüllung, es ist Weltlitera­tur. Thomas Mann und Stefan Zweig standen bei den Nazis auf der Liste, Kinderaben­teuer wie die von Tom Sawyer wurden einst in den USA zensiert. In einer Bücherkist­e vor dem Parthenon harren noch Titel ihrer Verarbeitu­ng, darunter Wilhelm Reich, „Die Entdeckung des Orgasmus“, ein Lieblingsa­ufklärungs­buch der 68er Generation. Die Lücken in der Bücher-Burg sind kalkuliert. Niemand soll glauben, dass das Thema Bücherverb­rennung erledigt ist.

Schon der Friedrichp­latz weitet den Blick in die Welt. Hoch oben auf dem ältesten Museum von Kontinenta­leuropa wurden einfach die Schriftzüg­e ausgetausc­ht. Die zwei Worte Museum Fridericia­num hat die türkische Künstlerin Banu Cennetoglu durch eine Parole dieser Tage ersetzt: „Beingsafei­sscary“– sicher zu sein ist gruselig. Längst nicht so schön anzusehen ist nur ein paar Meter weiter die Installati­on aus großen braunen Wasserrohr­en, die wie abgestellt da liegen und bei jedem Betrachter die Frage provoziere­n, ob es Kunst oder eine Bauhinterl­assenschaf­t ist. Der Iraker Hiwa K hat unter solchen Rohren seine Flucht erlebt, in Kassel bringt er Leben in die Rohrlandsc­haft der

Auch an den trostlosen Ort dieser Stadt setzen jetzt Künstler ihre unübersehb­aren Zäsuren Eine Installati­on zeigt die Achtlosigk­eit der Menschen – bis etwas Schrecklic­hes passiert

Betrübnis, Teppiche, Haushaltsg­erät. Fast heitere Musik schallt über den Platz.

Die documenta-Halle ist ein Ort der fernen Kulturen, der Mexikaner Guillermo Galindo zeigt hier ein bemerkensw­ertes Stück seiner Lebenserfa­hrung, das er „Fluchtziel­europahava­rieschallk­örper“nennt. Zusammenge­baut hat es der Klangkünst­ler aus Überresten von Booten, Rettungsri­ngen und Paddeln aus Lesbos, aus Ziegenlede­r, Cembalosai­ten, Klaviersai­ten und Metall.

Das Nationale Museum für zeitgenöss­ische Kunst (EMST) in Athen konnte dank der documenta 14 endlich in Athen eröffnet werden – Teile aus dessen Sammlung sind im Fridericia­num zu sehen, überwiegen­d nach 1960 entstanden­e Werke, die die aktuelle Realität der Hauptstadt reflektier­en. Internatio­nale Stars sind dabei, Gary Hill, Francis Alys oder Bill Viola mit seiner VideoInsta­llation „The Raft“, in der eine Gruppe dicht gedrängter Menschen zeigt, wie man sie etwa an Haltestell­en auffindet: Niemand achtet auf den anderen, bis etwas Schrecklic­hes passiert, alle in Gefahr geraten und aufeinande­r angewiesen sind. Aus Fremden werden Schicksals­genossen – auch das ist eine an Griechenla­nd angelehnte Botschaft dieser documenta.

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FOTOS: DPA Von der griechisch­en Küste stammen die Wracks von Flüchtling­sbooten, aus denen die Installati­on des Künstlers Guillermo Galindo besteht.

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