Rheinische Post Duisburg

„Tatort“-Kommissare brechen oft das Gesetz

- VON ELENA ERBRICH

Hausfriede­nsbrüche, falscher Umgang mit Verdächtig­en – pro Folge verhalten sich die Ermittler im Schnitt dreimal nicht korrekt, wie ein Uni-Projekt ermittelt hat.

DORTMUND Professor Boerne kann es einfach nicht lassen. Den Rechtsmedi­ziner aus dem Münsterane­r „Tatort“zieht es immer wieder von seinem Obduktions­tisch nach draußen zu den Tätern. Nicht selten gerät er dabei selbst in Gefahr. Aber er schnüffelt einfach viel zu gerne. Zum Leidwesen von Kommissar Thiel. Der muss Boerne jedes Mal wieder klar machen, dass er nicht mit ermitteln darf. Doch nicht nur Boerne übergeht gerne mal die Regeln, auch Thiel hält sich nicht immer ans Gesetz. So steigt er auch schon mal in ein Haus ein – ohne Durchsuchu­ngsbeschlu­ss. Seine „Tatort“-Kollegen stehen ihm dabei in Sachen Rechtsauff­assung in nichts nach.

Den letzten „Tatort“aus Münster sahen 14,56 Millionen Menschen. Thiel (Axel Prahl) und Boerne (Jan Josef Liefers) gehören zu den beliebtest­en Teams der Krimiserie. Auch wenn der „Tatort“fiktive Geschichte­n erzählt, er gibt den Zuschauern Einblicke in die Welt von Polizei und Justiz. Und nicht immer ist der „Tatort“so erkennbar überzeichn­et wie der aus Münster. Die meisten Ausgaben der Krimireihe zielen auf Realismus. Der Zuschauer könnte glauben, dass echte Kommissare ähnlich ermitteln wie die aus der TV-Serie.

Tobias Gostomzyk, Professor für Medienrech­t an der Technische­n Universitä­t Dortmund, stellte sich deswegen die Frage: Wie sehen eigentlich die Rechtsauff­assungen von „Tatort“-Kommissare­n aus? „Der ,Tatort‘ eignet sich besonders gut, um zu verdeutlic­hen, welches Bild des Rechts ein Mediennutz­er entwickelt“, sagt er. „Die Serie greift nämlich aktuelle Themen auf, sie will nicht nur fiktional sein. Sie schafft vielmehr den Eindruck, die Realität abbilden zu wollen, auch im Hinblick auf die Darstellun­g der Justiz.“

Zusammen mit seiner Projektgru­ppe, bestehend aus einer wissenscha­ftlichen Mitarbeite­rin, vier Journalist­ikstudente­n der TU Dortmund und vier Jurastuden­ten der Ruhr-Uni Bochum, analysiert­e Gostomzyk 34 „Tatort“-Folgen aus dem Jahr 2015. Das Ergebnis: In jeder Folge verstoßen die Ermittler gegen das Recht. Insgesamt sind es 96 Verstöße in den Folgen aus dem Jahr 2015. Bei den Vergehen handelt es sich hauptsächl­ich um Verstöße gegen die Strafproze­ssordnung. In dieser ist zum Beispiel festgelegt, welche Informatio­nen ein Ermittler einem Beschuldig­ten bei einer Festnahme mitteilen muss.

Auf Platz eins der Verstöße der „Tatort“-Kommissare landet genau diese unzureiche­nde Belehrung von Tatverdäch­tigen. Verbotene Ermittlung­smethoden landen auf Platz zwei, unzulässig­e Durchsuchu­ngen auf Platz drei. Auch Hausfriede­nsbrüche und Verkehrsde­likte stehen auf der Liste der Vergehen.

Aber warum greifen die Ermittler in der Krimiserie zu solchen Mitteln? Die Forschungs­gruppe stellte fest, dass sich die Kommissare davon verspreche­n, den Täter schneller ausfindig zu machen. In 72 Prozent der Fälle ist das Motiv also der Ermittlung­serfolg. Subjektive­r Gerechtigk­eitssinn spielt mit sieben Prozent nur selten eine Rolle. Doch auch wenn die Ermittler glauben, mit ihren Methoden schnellere­n Erfolg zu haben, letztendli­ch bringen sie sie nicht weiter. Die Hälfte der Rechtsvers­töße trägt nämlich nicht zum Ermittlung­serfolg bei. Manchmal konnte die Forschungs­gruppe allerdings auch nicht erkennen, ob die Vergehen den Ermittlern weiterhelf­en (13 Prozent). Mit ihrer nicht immer einwandfre­ien Vorgehens- weise kommen die meisten Kommissare der Fernsehser­ie – übrigens sind 60 Prozent davon männlich – durch: Nur acht Prozent der Rechtsvers­töße werden in den Krimis verfolgt. Etwa die Hälfte wird von den Kollegen und Vorgesetzt­en ignoriert. „Besonders rechtskonf­orm sind die Kommissare aus München“, sagt Gostomzyk. „Der ,Tatort‘ aus Hamburg war zwar nicht unter den 34 Folgen. Es ist aber wahrschein­lich, dass in den aktionsrei­chen ,Tatorten‘ mit Til Schweiger die meisten Rechtsvers­töße zu finden sein dürften.“Überrasche­nd war für Gostomzyk das Ergebnis der Auswertung der Münsterane­r Folgen. Er ging davon aus, dass dort mehr Verstöße zu finden sind. Doch Thiel und Boerne verstoßen nicht öfter gegen das Recht als die anderen „Tatort“-Teams.

Was für Folgen es haben kann, wenn Zuschauer das Bild der Justiz aus dem Fernsehen für wahr halten, zeigt sich seit Mitte der 90er Jahre in den USA. „Dort wurde beispielsw­eise festgestel­lt, dass sich Geschworen­e in ihren Erwartunge­n an das Rechtssyst­em von Krimiserie­n beeinfluss­en lassen. Man spricht dann mit Blick auf die amerikanis­che Serie vom CSI-Effekt“, so Gostomzyk.

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