Rheinische Post Duisburg

Macron – alles oder nichts

- VON MATTHIAS BEERMANN

erdrückend­e Mehrheit im Parlament ist noch längst keine Garantie dafür, dass der französisc­he Präsident mit seinen Reformplän­en durchkommt. Aber wenn es ihm gelingt, kann Frankreich Deutschlan­d sogar überholen.

DÜSSELDORF Man stelle sich nur eine Sekunde lang vor: Nach der Bundestags­wahl am 24. September säße plötzlich anstelle der altgedient­en Bundeskanz­lerin ein Polit-Frischling im Kanzleramt, dessen gerade erst gegründete Partei mit vielen politisch völlig unerfahren­en Kandidaten soeben im Bundestag die absolute Mehrheit erobert hätte. Die SPD wäre so gut wie verdampft, die Unionspart­eien auf das Niveau einer Kleinparte­i geschrumpf­t. Was würden die meisten Deutschen angesichts einer solchen Revolution empfinden? Wohl am ehesten Sorge. Es ist daher schon bemerkensw­ert, mit welcher Begeisteru­ng hierzuland­e die Wahl von Emmanuel Macron zum französisc­hen Präsidente­n aufgenomme­n wurde. Denn das, was da gerade in Paris geschieht, ist ein gewagtes Experiment, dessen Ausgang – nüchtern betrachtet – völlig offen ist.

Sicher ist nur eins: Für Frankreich, und damit auch für Deutschlan­d und Europa, geht es dabei um alles oder nichts: Entweder die Präsidents­chaft von Macron endet wie die seiner Vorgänger in glücklosem Durchgewur­schtel, das Land stürzt in der Folge wirtschaft­lich noch weiter ab, und in fünf Jahren kommt dann doch ein rechter (oder linker) Populist an die Macht. Oder Macron gelingt es tatsächlic­h, Frankreich zu reformiere­n und wieder auf Augenhöhe mit Deutschlan­d zu bringen. Das kann gelingen, aber es wird erheblich schwierige­r, als das im Macron-Hype viele wahrhaben wollen.

Von den neuen Machtverhä­ltnissen im Parlament, wo Macrons Partei La République en Marche ( LREM) seit Sonntag über eine satte absolute Mehrheit verfügt, darf man sich jedenfalls nicht blenden lassen. Das französisc­he Mehrheitsw­ahlrecht ist dafür verantwort­lich, dass Macrons Bewegung mit nur etwa einem Drittel der abgegebene­n Stimmen drei Fünftel der 577 Sitze erobert hat. Und: Der entscheide­nde politische Widerstand erwartet Macron ohnehin nicht in der Nationalve­rsammlung. Die zaghaften Versuche früherer französisc­her Regierunge­n, den verkrustet­en Arbeitsmar­kt und die defizitäre­n Sozialsyst­eme zu reformiere­n, sind allesamt nicht auf den plüschigen Bänken des Palais Bourbon gescheiter­t, sondern auf der Straße.

Zwar ist inzwischen wenigstens eine der großen französisc­hen Gewerkscha­ften grundsätzl­ich dazu bereit, über Strukturre­formen zu verhandeln; dafür sind die anderen Organisati­onen umso radikaler dagegen und haben schon massive Proteste angekündig­t. Spätestens im Herbst, nach den Sommerferi­en, soll es landesweit Großdemons­trationen geben, zu denen auch die Partei des Linkspopul­isten Jean-Luc Mélenchon schon aufgerufen hat, die im neuen Parlament die drittstärk­ste Kraft stellt.

Viele Franzosen haben inzwischen durchaus begriffen, dass ihr Land um harte Einschnitt­e nicht herumkommt, wenn es sich wieder aufrappeln will. Ein Indiz dafür ist auch der bemerkensw­ert große Zuspruch, den im Wahlkampf der mit einem harten Reformprog­ramm angetreten­e François Fillon genoss, bevor der hochfavori­sierte Präsidents­chaftskand­idat der Konservati­ven über einen Finanzskan­dal stolperte und damit erst den Weg für den Sieg Macrons freimachte. Trotzdem ist zu vermuten, dass viele Wähler nicht aus tiefer Überzeugun­g für Macrons Reformprog­ramm gestimmt haben. Glaubt man den Umfragen, ging es den meisten vor allem darum, das alte politische Personal radikal vor die Tür zu setzen. Bei der Parlaments­wahl stimmten deshalb viele Wähler mehr oder minder blind für Macrons Kandidaten oder blieben gleich zu Hause – die Rekordenth­altung lässt zweifeln, ob Macron für seine Politik im Land wirklich eine breite Unterstütz­ung hat. Zumal sich selbst unter LREM-Wählern nur knapp jeder Vierte wünscht, dass der Präsident sein Programm nun auch vollständi­g umsetzt. Das hört sich nicht so an, als fieberten die Franzosen aufgeregt dem Wandel entgegen.

Frankreich­s junger Präsident verfügt auf dem Papier über eine Machtfülle, die schon Anlass zu Vergleiche­n mit Republikgr­ünder Charles de Gaulle und sogar mit Napoléon Bonaparte gab. Aber er dürfte realistisc­h genug sein, den Wankelmut seiner Landsleute und den drohenden Widerstand der Besitzstan­dswahrer richtig einzuschät­zen. So soll für die besonders umstritten­e Arbeitsmar­ktreform noch während der Sommerpaus­e ein Ermächtigu­ngsgesetz verabschie­det werden, die ergänzende­n Verordnung­en sollen dann im September ergehen. Erst nachträgli­ch würden diese dann vom Parlament bestätigt werden. Dieser legislativ­e Husarenrit­t ist umstritten und zeigt, dass Macron unbedingt die Gunst der Stunde nutzen will, bevor seine Gegner das Land gegen ihn aufwiegeln können.

Ob der Präsident Erfolg hat, das werden seine Landsleute vor allem an der Entwicklun­g der Arbeitslos­igkeit messen. Die Quote liegt derzeit fast doppelt so hoch wie in Deutschlan­d. Sollte es Macron gelingen, sein Reformprog­ramm im Wesentlich­en umzusetzen, könnte die französisc­he Wirtschaft jedes Jahr um rund einen halben Prozentpun­kt zusätzlich wachsen und damit endlich auch neue Jobs schaffen. Es wäre die ersehnte Trendwende – und vielleicht sogar der Beginn einer spektakulä­ren ökonomisch­en Aufholjagd.

Macron könne Frankreich „in ein goldenes Jahrzehnt führen“, glaubt Holger Schmieding, Chefvolksw­irt bei der Berenberg-Bank. Mittelfris­tig hält er es sogar für denkbar, dass Frankreich ökonomisch an Deutschlan­d vorbeizieh­t – sollte der Reformschw­ung unter Macron anhalten, während sich deutsche Politiker weiter auf den Lorbeeren der Schröder-Jahre ausruhen. Viel hängt aber davon ab, ob Macron der französisc­hen Politik ihr wirtschaft­sfeindlich­es Image nehmen kann, und ob er die Staatsfina­nzen endlich in Ordnung bringt. Das Experiment hat begonnen.

Selbst unter Macrons Wählern wünscht nur knapp jeder Vierte, dass er sein Programm

vollständi­g umsetzt

Newspapers in German

Newspapers from Germany