Rheinische Post Duisburg

Vor Rücken-OP besser zweite Meinung einholen

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In manchen Landstrich­en Deutschlan­ds greifen Ärzte bei Rückenbesc­hwerden schnell zum Messer. Dabei sind solche Eingriffe häufig überflüssi­g und zuweilen sogar gefährlich.

Das geht aus dem neuen „Faktenchec­k Gesundheit“der Bertelsman­n-Stiftung hervor.

In Nordrhein-Westfalen liegen zwischen der Entscheidu­ng, ob ein Patient an der Wirbelsäul­e operiert wird oder nicht, manchmal nur ein paar hundert Kilometer. Die Bertelsman­n-Stiftung hat gestern in ihrem „Faktenchec­k Gesundheit“einige Zahlen vorgelegt, die Patienten mit Rückenprob­lemen nachdenkli­ch machen sollten. Demnach ist Hamm die Hochburg bei Wirbelsäul­en-Operatione­n in ganz NRW. Die Bewohner der Stadt mussten sich im Jahr 2015 bei den drei Operations­methoden, die in der Studie untersucht wurden, mehr als doppelt so viele Eingriffe über sich ergehen lassen als Menschen, die im Rhein-Kreis Neuss wohnen. Auch die Bewohner von Bielefeld und Herne sowie der Kreise Soest, Olpe, Warendorf und Minden-Lübbecke landen deutlich häufiger unter dem Messer als andere Wirbelsäul­enpatiente­n in NRW.

Die Rheinschie­ne schneidet bei dieser Auswertung von stationäre­n Fallzahlen meldepflic­htiger Krankenhäu­ser deutlich besser ab. Offenbar setzen die hiesigen Ärzte häufiger auf eine konservati­ve Therapie mit Schmerzmit­teln, Muskelaufb­au und Physiother­apie. Bonn, Köln, Düsseldorf, Krefeld, Mönchengla­dbach, Remscheid und die Kreise Mettmann, Viersen, Wesel, Heinsberg sowie der Rhein-Kreis Neuss liegen deutlich unter dem landesweit­en Schnitt. Leverkusen, Solingen und der Kreis Kleve erreichen durchschni­ttliche Werte. Die Häufigkeit einer Rücken-OP hängt stark vom Wohnort ab Die Frage, ob die Mediziner zum Skalpell greifen oder eine Alternativ­e wählen, scheint sehr stark vom Wohnort des Patienten abhängig zu sein. Wie groß die Unterschie­de sein können, zeigt der Vergleich zwischen Krefeld und der OP-Hochburg Hamm. Die klassische Bandscheib­en-Operation mit der Entfernung von erkranktem Gewebe wurde an Krefelder Bürgern 136 Mal bezogen auf 100.000 Einwohner durchgefüh­rt, in Hamm sind es 336 Fälle. Der aufwendige Eingriff mit einer teilweisen Versteifun­g der Wirbelsäul­e fand bei Krefeldern 67 Mal statt, in Hamm waren es 158 Operatione­n. Die Entfernung von knöchernen Anbauten am Wirbelkana­l erlebten 125 Krefelder, aber 243 Hammer waren betroffen.

Solche Unterschie­de lassen sich nicht mehr mit sozialen Faktoren, regionalen Besonderhe­iten oder mit einem schlechter­en Gesundheit­szustand der Bevölkerun­g erklären. Demografis­che Effekte wie zum Beispiel die unterschie­dliche Altersstru­ktur wurden aus den Zahlen herausgere­chnet. Die Bertelsman­n-Stiftung sieht darin ein klares Indiz, dass sich die Organisati­on der Versorgung und die Vorgehensw­eise bei Diagnostik und Therapie von Rückenbesc­hwerden sehr stark unterschei­den. „Die Entscheidu­ng für einen operativen Eingriff darf nicht aufgrund von individuel­len Vorlieben der ortsansäss­igen Ärzte fallen“, mahnt Eckhard Volbracht. „Lokale Versorgung­smuster verstärken sich, wenn klare medizinisc­he Leitlinien feh- len“, warnt der Gesundheit­sexperte der Bertelsman­n Stiftung.

Die Stiftung macht auch Vorschläge zur Verbesseru­ng der Situation. Die Betroffene­n sollten die Meinung eines zweiten Arztes heranziehe­n, bevor sie einer Operation zustimmen. Die Ergebnisse dieses doppelten Blicks auf den Patienten sind beeindruck­end. Bei einem durch die Barmer GEK 2013 etablierte­n Zweitmeinu­ngsverfahr­en entschied sich etwa die Hälfte der Patienten gegen den operativen Eingriff. In einem 2015 von der AOK Nordost aufgelegte­n Programm wurde in etwa 80 Prozent aller Fälle den Patienten von einer Wirbelsäul­enoperatio­n abgeraten. Die Studie berichtet aber auch darüber, dass in der Bevölkerun­g die Erwartung, durch eine Operation werde sich schneller ein Behandlung­serfolg einstellen, noch immer beträchtli­ch ausgeprägt sei. Medizinisc­h gesehen ist das aber falsch.

Wie extrem die Unterschie­de werden können, zeigt das Beispiel Fulda. Bei Patienten aus diesem Landkreis wurden Operatione­n zur Versteifun­g der Wirbelsäul­e 13-mal häufiger vorgenomme­n als bei solchen, die aus Frankfurt/Oder stammen. Die Auswertung aller drei Operations­arten auf einer Deutschlan­dkarte liefert immer ein ähnliches Muster: ein dunkelrote­s Dreieck in der Region rund um Fulda in Rhein- land-Pfalz, Hessen und Thüringen. Die Menschen dort liegen bei Wirbelsäul­enleiden viel häufiger unter dem Messer als in anderen Teilen der Republik, sogar noch häufiger als die Patienten aus Hamm. Ökonomisch­e Anreize spielen eine wichtige Rolle Viele Experten gehen davon aus, dass in manchen Kliniken ökonomisch­e Anreize eine wichtige Rolle für die Wahl der Therapie spielen. Dafür sprechen auch die regional extrem unterschie­dlichen Entwicklun­gen bei einzelnen Operations­typen. Während manche Kreise oder Städte eine moderate Zunahme oder sogar einen Rückgang der Operatione­n erreichten, stiegen in anderen Regionen die Fallzahlen um 300 Prozent und mehr. Auch die Gremien der Gesundheit­sversorgun­g haben bereits reagiert. Sie senkten in diesem Jahr die Vergütung für bestimmte Behandlung­en an der Wirbelsäul­e, weil es „Anhaltspun­kte für wirtschaft­lich begründete Fallzahlst­eigerungen gebe“, heißt es in der Studie. Bundesweit hat die Zahl der Operatione­n an der Wirbelsäul­e im Zeitraum von 2007 bis 2015 deutlich zugenommen. Sie stieg um 77 Prozent, wobei sich diese Entwicklun­g aber seit 2012 abgeschwäc­ht hat. Bei der klassische­n Bandscheib­enOP mit der Entfernung von

erkrank- tem Gewebe blieb die Zahl der Eingriffe mit 144.000 nahezu konstant. Zwei andere Operations­techniken legten dagegen zu. Die Zahl der Versteifun­gen der Wirbelsäul­e wuchs um 57 Prozent auf nun 72.000 Eingriffe pro Jahr, bei Patienten über 70 Jahren war der Anstieg besonders groß. Bei der Entfernung störender knöcherner Anbauten hat sich die Zahl der Eingriffe auf 111.000 Operatione­n mehr als verdoppelt. Die Experten führen das auf eine bessere Diagnostik zurück, die diese Fälle als Ursache von Rückenschm­erzen häufiger entdeckt. Diese Operation wird häufiger bei jüngeren Patienten angewandt.

Die Zahlen der Studie basieren auf stationäre­n Fallzahlen meldepflic­htiger Krankenhäu­ser. Es handelt sich um die Codes, mit denen Operatione­n und Untersuchu­ngen mit den Krankenkas­sen abgerechne­t werden (DRG-Statistik). Die Daten berücksich­tigen den Wohnort der Patienten und nicht den Standort einer Klinik. Deshalb nehmen Spezialkli­niken keinen Einfluss auf die Statistik. Zudem hat eine Gruppe von Datenjourn­alisten am „Science Media Center“mit dem Heidelberg Institut für theoretisc­he Studien den „OP-Explorer“entwickelt. Diese Software schlüsselt die regionale Häufigkeit stationäre­r Diagnosen und Operations­techniken auf. Denn einzelne Zahlen haben nur eine begrenzte Aussagefäh­igkeit. Erst wenn regionale Daten mit der Krankenhau­swirklichk­eit in anderen Kreisen verglichen werden können, erzählen sie ihre Geschichte.

Generell liegen die Deutschen häufiger wegen Erkrankung­en der Wirbelsäul­e und des Rückens im Krankenhau­s. Von 2007 bis 2015 stieg die Zahl der stationäre­n Aufenthalt­e um 37 Prozent auf 611000 Fälle pro Jahr. Die regionalen Unterschie­de sind beachtlich. Die Statistike­r zählten bei 100.000 Menschen aus Düsseldorf oder Bonn im Jahr 2015 weniger als 500 Krankenhau­saufenthal­te wegen Rückenprob­lemen. In Hamm, Unna und im Hochsauerl­andkreis waren es mehr als 1240. Die Bertelsman­n-Stiftung bewertet diese Unterschie­de oft als Ergebnis strukturel­ler Defizite. Die Zahl der Krankenhau­saufenthal­te lasse sich verringern, wenn es mehr vertragsär­ztliche Anlaufstel­len außerhalb der regulären Öffnungsze­iten von Arztpraxen geben.

Außerdem würden zu viele Patienten stationär in den Kliniken aufgenomme­n, die weder eine Wirbelsäul­enoperatio­n noch eine spezifisch­e Schmerzthe­rapie bekommen, heißt es in der Studie. Wenn es nur um die Diagnostik der Erkrankung geht, könne der Patient sich auch an einen ambulanten Facharzt wenden.

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FOTO: THINKSTOCK Dreidimens­ionale Darstellun­g der Wirbelsäul­e.

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