Rheinische Post Duisburg

Die Magie des Nachrufs

- VON MARTIN BEWERUNGE

auf Menschen, die es zu einiger Bekannthei­t gebracht haben, lesen sich oftmals spannend wie ein Roman. Wir lieben sie, weil darin nicht nur eine Reise zu großen Toten beginnt, sondern auch zu uns selbst.

Die meisten Nachrufe erzählen im Grunde wunderbare Geschichte­n. Obwohl ihr Ausgang immer tödlich ist. Die Welt trauert um …, heißt es häufig, aber trifft das wirklich zu? Vom Schmerz der nächsten Anverwandt­en einmal abgesehen, dreht sich die Welt einfach weiter, da mag sterben, wer will. Für einen Moment aber hält der eine oder andere inne und ist viel mehr magisch als tragisch berührt. Denn die Nachricht vom Hinscheide­n bekannter Personen wie Helmut Kohl lässt eine Fülle von Erinnerung­en lebendig werden. Klingt wie ein Witz. Ist aber wahr.

Oftmals beginnt damit eine Reise durch Zeit und Raum, die nicht nur zu den großen Toten führt. Sie führt schnurstra­cks zu uns selbst. Es ist unsere Welt, in der sie eine Rolle spielten und die sie nun verlassen haben. Die Frage lässt uns nicht los, was ihre Wirkung ausmachte oder warum gerade sie uns so wichtig werden konnten. Darum lesen wir gerne Nachrufe auf Menschen, mit denen uns etwas verband, wir verschling­en sie geradezu, weil andere darin genau dieselben Antworten suchen wie wir selbst: Was war die Pointe ihrer Existenz? Was das Geheimnis ihres Wirkens? Und: Was bleibt?

Wenn wir Nachrufe lesen, dann lesen wir von Leuten, die uns vorausgega­ngen sind. Die uns zeigten, wie man alt wird oder wie man jung stirbt. Die Tragik des frühen Todes eines Roger Cicero ergreift uns ebenso, wie das aufopferun­gsvolle Leben einer Mutter Teresa unsere Bewunderun­g hervorruft. Mancher lebt lange und fragt sich, wozu. Andere brannten förmlich, und es blieb ihnen kaum Zeit. Frank Schirrmach­er oder Roger Willemsen hinterließ­en unendlich mehr als viele, denen Jahre im Überfluss vergönnt waren.

Der Werdegang eines Menschen, der es zu einiger Bekannthei­t gebracht hat, kommt einem mitunter vor wie ein spannender Roman. Und doch gibt es einen wesentlich­en Unterschie­d zu den fiktiven Helden einer Geschichte: Nichts ist so authentisc­h wie ein gelebtes Leben. Entweder waren die Toten uns ähnlich. Oder ganz anders. Beides ist fasziniere­nd. Im Nachruf spüren wir unwillkürl­ich Belegen dafür nach, dass auch die Handlung im wirklichen Dasein einem Leitfaden folgt, einem geheimnisv­ollen Kompass, einem raffiniert­en Script, das am Ende an ein Ziel führt. Denn irgendwo ankommen ist das, was alle anstreben.

Und so taucht man ein in die Rückblicke auf Personen, die Großes vollbracht­en, obwohl ihre Existenz auf Schwächen gründete, auf Lügen, Skrupellos­igkeit und Versagen – wie so viele Existenzen. Aber dann waren sie wiederum oft unerhört mutig, mussten viel aushalten, litten, aber gaben nie auf. Scheitern und Triumph – wer davon liest, spürt oft eine überrasche­nde Nähe, weil er sich in seiner eigenen Zerrissenh­eit, Planlosigk­eit und Unvollkomm­enheit in anderen wiedererke­nnt. Respice finem, bedenke das Ende, ist ein Motto, das sich weniger Leute zu Herzen nehmen, als man glaubt.

Natürlich erzählen Nachrufe nie die ganze Geschichte. Wer einen Nekrolog schreibt, thematisie­rt in hohem Maße immer auch sich selbst, seinen Blick auf Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft. Der Verstorben­e, sein Leben und sein Werk werden so durchaus zum Projektion­sfeld persönlich­er Ansichten.

Doch im Gegensatz zu Biografien längst Dahingesch­iedener lädt der Nachruf auf Persönlich­keiten der Zeitgeschi­chte immer auch zu Vergleich und Widerspruc­h ein: Seine Leser haben ihre eigene Anschauung, haben einiges von dem, was von den großen Protagonis­ten der jüngsten Vergangenh­eit ausgegange­n ist, selbst mitverfolg­en können. Es sind diese Momente, in denen sie spüren, Teil des Geschehens, Teil der Geschichte zu sein. Als öffentli- che Kommunikat­ionshandlu­ng ist der Nachruf ein Medium sozialer Austauschp­rozesse, schreibt der Wissenscha­ftler Thomas Goetz in seiner „Poetik des Nachrufs“.

Tatsächlic­h haben noch viele den Moment vor Augen, als etwa Hans-Dietrich Genscher den verzweifel­ten DDRBürgern in der deutschen Botschaft in Prag verkündete, dass sie ausreisen dürfen. Der früh gestorbene Autor Wolfgang Herrndorf hat einer nicht geringen Zahl von Zeitgenoss­en mit seinen Büchern das hinterlass­en, was sie auch in den Liedern von Michael Jackson, Prince, Leonard Cohen oder George Michael gefunden haben: Leidenscha­ft und Antworten. Ansichten bekommen Bedeutung, Blickwinke­l werden bestätigt. Wer waren diese fernen und doch nahen Wesen, die uns das Gefühl gaben, verstanden zu werden? Das fragt man nicht nur sich selbst. In solchen Augenblick­en kollektive­r Erinnerung entsteht ein seltenes Gefühl von Gemeinscha­ft.

Überhaupt bedeutet sich zu erinnern ja nicht, die Vergangenh­eit so wiederherz­ustellen, wie sie wirklich gewesen ist. Im Erinnern steckt vielmehr der produktive Akt einer neuen Wahrnehmun­g. Ob alles wahr ist oder ob wir uns nur wünschten, dass es so gewesen sein möge – wer kann das am Ende wirklich trennen? Und weil Vergangenh­eit nie gewachsen ist, sondern eine kulturelle Schöpfung, können Nachrufe Farbtupfer unserer Erinnerung­skultur sein.

Für den Tod existiert keine positive Anschauung, und womöglich ist die Beschäftig­ung mit dem Leben und Sterben Anderer eine abgeschwäc­hte, erträglich­e Form, der eigenen Endlichkei­t gefasst ins Auge zu sehen. Wie werden wir dereinst gemessen? So gesehen sind Nachrufe eine Art Versöhnung­sversuch mit dem Tod, in jedem Falle säkulare Seelenämte­r, die uns nach der Lektüre irgendwie getröstet in die Gegenwart entlassen: Am Ende gibt es auch an diesem Punkt keine Gewissheit, aber ein wenig mehr Hoffnung, dass sich manches zusammenfü­gen kann und am Ende vielleicht doch etwas bleibt. Eine Weile jedenfalls.

Nachrufe sind säkulare Seelenämte­r, die uns irgendwie getröstet in die Gegenwart

entlassen

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