Büchners Lorbeer für einen Lyriker
Der mit 50.000 Euro dotierte wichtigste deutsche Literaturpreis geht an den Berliner Dichter Jan Wagner. Das ist eine kluge und inspirierende Entscheidung. Denn der 45-Jährige versteht es, Dichtung populär zu machen.
DARMSTADT In der Fußballersprache würde es heißen: Jan Wagner ist seit gestern quasi Deutscher Meister. Allerdings nur in der Literatur und noch dazu als Lyriker, als Vertreter eines Genres, das hierzulande bestenfalls den Stellenwert einer Randsportart der schönen Worte genießt. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung scheint mit ihrem neuen Büchner-Preisträger also Klischees gerecht zu werden, nach denen Deutschlands wichtigste und mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung an einen Autor geht, der auf Bestsellerlisten nicht und auf den Stapeltischen der Buchhandlungen höchst selten zu finden ist. Nicht deshalb, aber trotzdem: Jan Wagner ist eine grandiose, zukunftsweisende, mutige und inspirierende Wahl. Jan Wagner ist der vielleicht spannendste deutsche Lyriker; und wer mit Gedichten nun wirklich nicht allzu viel anzufangen weiß, kann sich glücklich schätzen, weil ihm nun das Werk des in Hamburg geborenen und in Berlin lebenden Poeten zur Erstentdeckung noch bevorsteht.
Und Jan Wagner macht Erstbegegnungen recht einfach. So mühelos und eingängig erscheinen seine Gedichte, als seien die Verse mehr oder weniger eigentümlich umbrochene Aphorismen. Vielleicht sind sie das ja auch auf den ersten Blick. Doch unter den durchgängig kleingeschriebenen Worten pulsiert es, herrscht eine Unruhe, auch eine Nervosität. „Die scheinbar leicht geschriebenen Gedichte haben immer noch einen Hintergrund, der sie nicht so leicht zu einem Ende bringt“, sagte uns gestern Jürgen Becker, der selbst vor drei Jahren mit Büchners Lorbeer dekoriert wurde. Der 84-jährige Kölner hob Wagners „sehr große verbale Phantasie“hervor; „seine Poesie öffnet dem Leser die Sinne, seine Art zu schreiben hat viel Zukunft.“
Jan Wagner kann man lesen – auch ohne lyrische Vorbildung. Doch wie bei jeder Kunst erschließt sich die Größe des Werkes auch in der Fähigkeit des Lesers, sich diese Größe zu erschließen. Wie viel- schichtig wird dann so ein harmloser und hier abgedruckter Vierzeiler über die „gaststuben in der provinz“. Eine melancholische Szene vielleicht. Und doch irritiert das Wort „Helden“; auch ist von rostenden Nägeln im Rücken ihrer Trikots die Rede. Das klingt nach einem langsamen Tod. Nach Mord vielleicht? Nach Verrat möglicherweise? Als spiele sich in nur wenigen Zeilen ein Drama ab, und wem der Sinn danach steht, findet Anklänge an antike Tragödien.
Dieses Spiel, das Schwere leicht zu machen, ist die hohe Kunst Jan Wagners. Aber dafür muss man viel Talent und die großen Vorgänger gelesen und inhaliert haben – bei Wagner sind das vor allem Ted Hughes und Seamus Heaney. Diese Liebe dürfte auch seinem Studium in Dublin geschuldet sein sowie seiner Arbeit als Übersetzer englischer und amerikanischer Lyrik. Wer über ein solch reifes Fundament verfügt, ist auf lautes, wildes Wortgetöse nicht angewiesen.
Das Spannende an Jan Wagner ist darum auch, dass er mit klassischen Gedichtformen und romantischen Motiven modern ist. Der Reim ist bei ihm keine Seltenheit und das Sonett nicht verboten; auch die Natur kommt in seinen Gedichten zu neuer dichterischer Blüte. Ausgerechnet sein naturlyrischer Band „Regentonnenvariationen“wurde mit fast 50.000 verkauften Exemplaren ein Bestseller.
Darin wird auch der Giersch besungen, eigentlich ein Wildgemüse, das als Unkraut verpönt ist und bei Jan Wagner zum Welterklärungskraut heranwächst: „nicht zu unterschätzen: der giersch / mit dem begehren schon im namen – darum / die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch / wie ein tyrannentraum“usw.
Die vertraute Form und das bekannte Terrain dienen uns nicht zum Trost in einer zunehmend rätselhaft werdenden Welt. Wagners Ästhetik versöhnt mit nichts; aber sie bereichert das vermeintliche Chaos mit Schönheit und wohlklingendem, geistreichem Widerstand.
Dass in Jan Wagner ein erst 45Jähriger geehrt wird, ist eher ungewöhnlich. Eine Neuentdeckung ist der Preisträger freilich nicht: In 30 Sprachen sind seine lyrischen und essayistischen Arbeiten – darunter „Probebohrung im Himmel“, „Australien“, Selbstporträt mit Bienenschwarm“und jüngst „Der verschlossene Raum“– bereits übersetzt worden. Und vor zwei Jahren wurde er als erster Lyriker überhaupt mit dem renommierten Preis der Leipziger Buchmesse geehrt. An Ehrungen, Zuspruch und Leserschaft mangelt es ihm nicht. Fast könnte man also glauben und hoffen, dass auch mit ihm abseits all der Poetry Slams Lyrik wieder eine Chance hat.
Es ist ja nicht so, dass Wagner seine Außenseiterrolle als Lyriker nicht kennt – und nicht zu schätzen weiß. Dazu gibt es eine nette Erzählung von ihm, „beiläufige Prosa“genannt. Beim Geburtstag seiner Großmutter wird er anstandshalber von einem betagten Gast nach dem Beruf gefragt. So gibt er sich als Autor und bei erneuter Nachfrage als Lyriker zu erkennen. Dann kommt keine Nachfrage mehr, nur noch das Lob an die Oma: „Der Bienenstich ist wunderbar!“