Rheinische Post Duisburg

Würdiger Abschied erwünscht

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Das neue, empfehlens­werte Buch „Merkel, eine kritische Bilanz“, herausgege­ben von FAZ-Redakteur Philip Plickert würde man wegen solcher Sätze im Kanzleramt wohl am liebsten ignorieren: „Merkels Deutschlan­d hat in Mitteleuro­pa gegenüber dem Kohl-Deutschlan­d an Sympathie verloren“, schreibt der österreich­ische Politikwis­senschaftl­er Andreas Unterberge­r. Als Merkels politische­r Lehrmeiste­r Kohl, dessen Sarg morgen in Straßburg die Europaflag­ge bedecken wird, 1998 das Amt verließ, konnten wir den Satz von Kohls Außenminis­ter HansDietri­ch Genscher (FDP) mit Recht verinnerli­chen: „Das wiedervere­inigte Land ist erstmals in seiner Geschichte von Freunden umgeben.“

Nun jedoch stellt ein Österreich­er zunehmende Distanz und Misstrauen gegenüber Berlin fest: Kohl habe gespürt, dass es klug sei, Österreich und den anderen Ländern im Osten

Beim morgigen Trauerakt für Altkanzler Helmut Kohl zeigt sich: Ist die Kanzlerin ein politische­r Scheinries­e? Oder schlüpft Angela Merkel für Kohl in dessen große Schuhe?

emotionale Zuwendung zu zeigen, sagte Außenminis­ter Sebastian Kurz jüngst. Merkel dagegen strahle freundlich­es Desinteres­se an den kleineren Staaten im Osten und Südosten aus. Als der junge Außenminis­ter zu Wochenbegi­nn Ehrengast beim Düsseldorf­er Ständehaus­Treff war, wahrte er gegenüber Merkel die geglättete diplomatis­che Form. Aber jeder, der Kurz zuhörte, erkannte den standfeste­n Widersache­r gegen das europapoli­tisch unabgestim­mte Vorpresche­n Berlins 2015/16 bei der unkontroll­ierten, massenhaft­en Zuwanderun­g.

Kohl, der Ehrenbürge­r Europas, hätte jenes „partielle Regierungs­versagen“(„Neue Zürcher Zeitung“) mit seiner Lieblingss­chelte „dumm und töricht“kommentier­t. Österreich vor allem war es, das Merkel zeigte, wie man mit vernünftig­en Partnern Grenzen sichert. Die Kanzlerin hingegen, die Paris, Brüssel, Warschau, Rom oder London vor den Kopf gestoßen hatte, ließ gegen Kurz und andere Gegner aus allen Rohren feuern.

Philip Plickert, Wirtschaft­sredakteur und Herausgebe­r des erwähnten Buches, nennt die aus seiner Sicht nicht nur in der Zuwanderun­gspolitik fehleranfä­llige Kanzlerin einen „Scheinries­en“. Es fiel auf, dass Außenminis­ter Sigmar Gabriel (SPD) jetzt in einem klugen Zeitungs-Aufsatz unter der Überschrif­t „Vorbild Kohl“dessen europapoli­tische Strategie des Kompromiss­es zum Wohle aller in Europa einer neu-teutonisch­en Besserwiss­erei und Schulmeist­erei entgegenst­ellte. Morgen spricht Merkel zu Ehren ihres politische­n Lehrherrn. Europa hört genau hin. Eine inspiriere­nde Rede jenseits rhetorisch­er Quarkspeis­en zur EU wäre schön – und der beste Dank an den großen Toten.

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