Rheinische Post Duisburg

DUISBURGER GESCHICHTE UND GESCHICHTE­N Die Arbeitslos­enversiche­rung wird 90

- VON HARALD KÜST duisburg@rheinische-post.de 0203 92995-94 RP Duisburg rp-online.de/whatsapp 0203 92995-29

Das Gesetz vom Juli 1927 sollte dazu führen, dass die Erwerbslos­en nicht mehr auf die Erwerbslos­enfürsorge der Städte und Gemeinden angewiesen sind. Die bald darauf einsetzend­e Massenarbe­itslosigke­it machte den Reformwill­en zunichte.

Weimarer Sozialpoli­tiker und Gewerkscha­ftler verabschie­deten am 16. Juli 1927 das Gesetz über Arbeitsver­mittlung und Arbeitslos­enversiche­rung (AVAVG) – man feierte es stolz als letzten Meilenstei­n der in der Geschichte der deutschen Sozialvers­icherung. Die Erwerbslos­en sollten nicht mehr auf die Erwerbslos­enfürsorge der Städte und Gemeinden, die einem Almosen ähnelte, angewiesen sein. Die Beiträge an die „Reichsanst­alt“wurden zu gleichen Teilen von den Arbeitnehm­ern und den Arbeitgebe­rn aufgebrach­t. Ein wichtiger Schritt für eine reichsweit­e Arbeitsmar­ktpolitik.

Die Erwerbslos­en konnten sich bei dem neu geschaffen­en Arbeitsamt Duisburg melden, um dort ihre Arbeitslos­enunterstü­tzung zu erhalten. Neue modern anmutende Aufgabensc­hwerpunkte bildete die Vermittlun­g, Berufsbera­tung und die berufliche Qualifizie­rung. Die optimistis­che Grundstimm­ung der damaligen Zeit zeigen die Bilder von der Einweihung des Arbeitsamt­sgebäudes an der Ruhrorter Str. 110. Damals gingen die Experten bei der die Finanzieru­ng der Versicheru­ng von maximal 5 Prozent Erwerbslos­enquote aus. Eine Fehlkalkul­ation mit dramatisch­en Folgen. Die Massenarbe­itslosigke­it von reichsweit über sechs Millionen Arbeitslos­en während der Weltwirtsc­haftskrise war zu diesem Zeitpunkt schlicht unvorstell­bar.

Dabei gab es warnende Stimmen. Das geht aus einer Korrespond­enz zwischen Außenminis­ter Stresemann und seinem Parteifreu­nd, dem Duisburger Oberbürger­meister Karl Jarres, hervor. Die durch kurzfristi­ge Auslandsan­leihen erreichte wirtschaft­liche Festigung stand auf tönernen Füßen. Die Industrie erarbeitet­e mit Krediten die Steuerbeit­räge zur Bezahlung der Kriegsschu­lden. Auch die Stadt Duisburg wies Auslandssc­hulden in Höhe von 12,6 Millionen Reichsmark auf. Wenn die „Amerikaner ihre kurzfristi­gen Kredite abrufen“, befürchtet­e Stresemann im November 1928, „dann ist der Bankrott da“.

Mit dem „Schwarzen Freitag“ein Jahr später nahm das Desaster seinen Lauf. Eine Wirtschaft­srezession von ungeahntem Ausmaß setzte mit Abzug der US-Kredite schlagarti­g ein. Die Rücklagen der Arbeitslos­enversiche­rung der Reichsanst­alt schmolzen dahin. Massive Kürzun- gen waren die Folge. Die meisten Arbeitslos­en waren schon bald auf die Wohlfahrts­hilfe der Kommune angewiesen. Die Stadt Duisburg sah sich nicht in der Lage, die explodiere­nden Sozialkost­en (Wohlfahrts­hilfe oder „Ausgesteue­rtenfürsor­ge“- ein Vorläufer von Hartz IV) aus eigenen

Mitteln zu

tragen. Die Gesamtvers­chuldung Duisburgs betrug 120 Millionen Reichsmark. Duisburg lag mit 35,4 Prozent Arbeitslos­enquote an der Spitze aller Ruhrgebiet­sstädte. Absolut waren das 62.793 Menschen. Im Februar 1933 erhalten 44 Prozent der Bevölkerun­g Erwerbslos­en- oder Wohlfahrts­unterstütz­ung; die in der Folge laufend gekürzt wurde.

Arbeitslos­e bevölkerte­n Straßen und Parks oder standen Schlange vor den „Stempelbud­e“– ein Bild der Trostlosig­keit. Enttäuschu­ng und Verdruss breiteten sich aus. Kampfappel­le, Saalschlac­hten und Krawalle waren an der Tagesordnu­ng. Angst, Verzweiflu­ng und Hoffnungsl­osigkeit trieben die Wähler schließlic­h in die Arme der Nationalso­zialisten. Mit der nationalso­zialistisc­hen Machtergre­ifung im Jahr 1933 wurde die Reichsanst­alt als Träger der Arbeitslos­enversiche­rung „gleichgesc­haltet“. Hinter dem Begriff stand die Reorganisa­tion alle Behörden nach den Vorstellun­gen des NS-Regimes zu reorganisi­eren. Die Entmachtun­g von Gewerkscha­ftsvertret­ern, die anteilig im Verwaltung­sausschuss des Arbeitsamt­es vertreten waren, erfolgte bald darauf . Das System der Selbstverw­altung wurde sofort abgeschaff­t. Die Arbeitsver­waltung hatte das Selbstvers­tändnis einer sozialen und bürgerorie­ntierten Einrichtun­g.

Dies alles änderte sich mit der Machtübern­ahme der Nationalso­zialisten. Die Arbeitsver­mittlung wurde schrittwei­se umgewandel­t in ein Instrument der Arbeitsein­satzpoliti­k. Die „Lenkung der Arbeitskrä­fte“zum Staatsprog­ramm erhoben. Das heißt: Der Arbeitsein­satz in Rüstungsbe­trieben stand im Vordergrun­d. Das gigantisch­e Rüstungspr­ogramm diente dem Beschäftig­ungsaufbau, aber um welchen Preis. Noch im ersten Jahr der NSHerrscha­ft entließ man – nach dem »Gesetz zur Wiederhers­tellung des Berufsbeam­tentums« – ca. 20 Prozent des Personals.

Darunter befanden sich vor allem Mitglieder der Gewerkscha­ften und der Arbeiterpa­rteien. Schlüsselp­ositionen wurden mit NS-Parteimit- gliedern („Alte Kämpfer“) der ersten Stunde besetzt. Die „Säuberung“im Dienste der Exekutivge­walt hat in autoritäre­n Regimen eine lange Tradition.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Gesetzgebu­ng der Bundesrepu­blik zur Arbeitslos­enversiche­rung im Geiste der Weimarer Republik. Heute verfügt die Bundesagen­tur über ein scheinbar hohes Rücklagenp­olster von elf Milliarden Euro. Arbeitsmar­ktforscher warnen: „Die in den vergangene­n Jahre sehr positive Arbeitsmar­ktentwickl­ung kann nicht als Normalfall gelten.“Erfahrunge­n aus den vergangene­n drei Rezessione­n hätten gezeigt, dass die Bundesagen­tur zur Bewältigun­g von Wirtschaft­skrisen rund 20 Milliarden Euro benötige.

QUELLE: Das Ruhrgebiet im 19. und 20. Jahrhunder­t, H.G. Steinberg,

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