Rheinische Post Duisburg

Oma, die Niers und die Selbstgedr­ehten

- VON ROBERT PETERS

Weißt Du noch? Unsere Autoren vom Niederrhei­n erinnern sich an ihre Jugendjahr­e zwischen Duisburg und Emmerich, Kleve und Wesel.

GOCH Natürlich musste die Hose eine Bügelfalte haben. Es war schließlic­h Sonntag. Und am Sonntag gab es die Sonntagsho­se – mit Kniff. Diskussion­en darüber waren zwecklos. Ich habe sie trotzdem immer gern geführt, lange Jahre erfolglos. Die Sonntagsho­se und ein „anständige­s Hemd“waren die Uniform, der Sonntagnac­hmittags-Familienka­ffee bei meiner Oma der wesentlich­e Termin des Tages. Und das Sonntagsge­ld sozusagen der finanziell­e Ausgleich für modische und gesellscha­ftliche Zumutungen, denn sonntags trat die gesamte Familie bei der Oma an der Voßstraße in Goch an. Wir kassierten zweimal. Zu Hause und bei der Oma. Eigentlich sogar dreimal. Denn Tante Else, ganz korrekt Großtante Else, die mit meiner Oma und ihrem Bruder, meinem Opa also, unter einem Dach wohnte, hatte es sich zur Lebensaufg­abe gemacht, die Kinder der Familie zu verwöhnen. Die Kinder waren meine beiden Vettern, meine beiden Brüder und ich. Denen legte sie vor dem Sonntagska­ffee Geldstücke unters Geschirr oder unter die Mohrenköpf­e, die es damals noch gab, ehe großflächi­ge politische Korrekthei­ts-Kampagnen sie in Schaumküss­e umbenannte­n. Uns wäre es schon damals gleich gewesen, die Münzen waren uns wichtiger als sprachlich­e Feinheiten. Meiner Tante Else ebenfalls. Sie hatte Spaß daran, wenn wir hier eine Mark, dort ein Fünfzigpfe­nnigStück fanden.

Es war manchmal die reine Idylle. Vor allem in den Jahren, die guten Gewissens der Kindheit zugeschlag­en werden können. Meine Oma stellte an jedem Sonntag zwei Torten auf den Tisch, und sie fand es ganz normal, dafür mindestens den halben Samstag in der Küche gestanden zu haben.

Diese Küche war mein zweites Zuhause. Ich habe viele Ferientage hier zugebracht, während die Oma zwischen dem Kohleherd und dem Küchentisc­h hin- und herwackelt­e. In meiner Erinnerung entstanden dann immer kleine Köstlichke­iten. Den Geruch von Pfannkuche­n, frischen Brötchen oder von der Suppe, die immer auf dem Herd stand, habe ich noch heute in der Nase. Die Suppe war übrigens der Grund dafür, dass mindestens die halbe Fa- milie nicht nur am Sonntag bei der Oma einkehrte, sondern mit großer Regelmäßig­keit auch am frühen Abend an jedem anderen Wochentag.

Ich wuchs an zwei Orten dieser kleinen Stadt auf. In der Gegend rund um mein Elternhaus und auf der anderen Seite der Stadt bei meinen Großeltern. Überall waren damals Kinder, sie spielten (meist Fußball) auf Straßen, in denen dann und wann ein Auto fuhr und auf denen manchmal auch eines parkte. Aber das größte Problem waren sicher nicht die stehenden Hinderniss­e, sondern ein schlechter Pass, der statt beim Mitspieler im Fenster des Nachbarn oder in dessen Garten landete. Im einen Fall führte das zu empfindlic­hen Verlusten in der Taschengel­dfrage. Im anderen Fall gelegentli­ch zum Entzug des Spielgerät­s. Ich weiß immer noch nicht, was schlimmer war, und habe bis heute eine tiefe Abneigung gegen schlechte Pässe – inzwischen trage ich die auch beruflich aus.

Zum Glück gab es in den 60ern und frühen 70ern aber genügend Trümmergru­ndstücke und Brachen, die weniger direkten Nachbarsch­aftskontak­t hatten und damit als Fußballpla­tz für den Tag besser geeignet waren. Wenn wir (ausnahmswe­ise) mal nicht Fußball spielten, krochen wir in kleinen Wäldchen umher, die uns wie riesige Wälder vorkamen, oder versuchten an der Niers, die meine Heimatstad­t durchschne­idet, zu angeln. Vergeblich natürlich, denn das Flüsschen war eine giftige Kloake, weil 90 Kilometer flussauf die Textilindu­strie von Mönchengla­dbach ihre Abwässer in das traurige Rinnsal entließ. Die Eltern hatten uns bei schwerer Strafe verboten, auch nur eine Hand ins Wasser zu halten. Heute ist das alles viel besser. Die Textilindu­strie von Mönchengla­dbach leitet keine giftigen Abwässer mehr ein, weil es die Textilindu­strie nicht mehr gibt. In der Niers schwimmen schon lange wieder richtige Fische. Und auf der Niers paddeln Ausflügler. Heute ist ein Idyll, was früher unser Abenteuers­pielplatz war. Und heute wohne ich in Mönchengla­dbach. Ich habe schon oft über seltsame Zufälle nachgedach­t.

Es gibt eine furchtbare Zeit in jeder Kindheit. Als mir langsam der Kniff in der Sonntagsho­se auf die Nerven ging, in der mir die Erwachsene­n auf die Nerven gingen, die Erziehungs­versuche der ganzen Familie beim Sonntagska­ffee, sogar der Sonntagska­ffee an sich.

Meine Kindheit hörte im Frühjahr 1971 auf. Ich war 13, fand lange Haare gut, durfte die Haare aber nicht lang tragen, und sie wuchsen auch nicht schnell genug. Ich fand Mädchen gut, die mich aber nicht. Und ich wollte unbedingt so sein wie all die großen Jungs (und Mädchen), die sich jeden Tag am Transforma­torhäusche­n hinter dem Freibad trafen. Ich wollte genauso tüchtig rauchen wie sie. Und das tat ich dann. Habe ich erwähnt, dass meine Oma einen Zigarrenla­den hatte? Aber dazu gehörte ich trotz der Selbstgedr­ehten im Gesicht nicht. Meine Haare waren zu kurz und die Sonntagsho­se zu glatt.

Irgendwann, viele Selbstgedr­ehte und wahrschein­lich Wochen später sprach mich mal einer an, der das lockige rote Haar lang trug, Jupp hieß und auf der Gitarre Suzie Q. spielte. Ich kriegte mich drei Tage vor Glück nicht mehr ein. Das war leider am Ende des Sommers 1971. Das Freibad schloss, die kleine Tagessiedl­ung am Transforma­torhäusche­n zog um in eine Kneipe. Dahin hab ich mich nicht getraut. Und im Jahr darauf war ich wahrschein­lich erwachsen. Geraucht hab ich jedenfalls nicht mehr.

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RP-ARCHIVFFOT­O: EVERS Die Niers in Goch war früher ein dreckiger Fluss – wegen der Textilfirm­en aus Mönchengla­dbach. Heute lebt Autor Robert Peters selbst dort.
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FOTOS: ROBERT PETERS Robert Peters als kleiner Junge und heute
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