Rheinische Post Duisburg

Offen bleiben für die Zukunft

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In kurzer Zeit haben zuletzt ein paar Wörter ihren guten Klang eingebüßt, sind rasend schnell zu Kampfbegri­ffen geworden, mit deren Verwendung sich Menschen ideologisc­h positionie­ren.

Die „offene Gesellscha­ft“ist so ein Wort. Viele verbinden damit inzwischen nur noch die vage Vorstellun­g von Ländern ohne funktionie­rende Grenzen, von nationalen Gebilden im Sog des totalen Kontrollve­rlusts. Offen wird nicht mehr als einladend oder freiheitli­ch begriffen, als Zustand, der frei denken und atmen lässt. Offen rückt in die Nähe von Begriffen wie naiv, arglos, wehrlos.

Sprache ist lebendig, die Bedeutung von Begriffen verändert sich, das ist nicht aufzuhalte­n und natürlich selbst ein Zeichen von Freiheit. Doch die Veränderun­g des Begriffs „offene Gesellscha­ft“ist mehr als eine sprachlich­e Verschiebu­ng. Denn wenn in einer Gesellscha­ft Offenheit als Bedrohung wahrgenom-

Viele Menschen verbinden mit dem Begriff der Offenheit nur noch die Vorstellun­g von Kontrollve­rlust. Dabei kann sich nur eine offene Gesellscha­ft an die Anforderun­gen der Zukunft anpassen.

men wird, dann gerät die Zukunft aus dem Blick. Zukunft verlangt nämlich nach Offenheit, sie ist immer unsicher, stellt Anforderun­gen, die man zunächst noch nicht ganz überblicke­n kann, auf die man sich aber trotzdem offen – das heißt mutig, selbstbewu­sst, f lexibel – einlassen muss. „Eine gute Gesellscha­ft ist eine, die auf Veränderun­gsanforder­ungen geschmeidi­g reagieren kann“, schreibt der Soziologe Harald Welzer, „nicht perfekt, aber nach ihren Möglichkei­ten. Wo man hingegen versucht hat, sie einzuricht­en, die perfekte Gesellscha­ft – im Nationalso­zialismus, im real existieren­den Sozialismu­s –, gab es viele Gefängniss­e, Lager und Tote.“

Die meisten Menschen sehnen sich nach Kontinuitä­t im Leben, weil jede Veränderun­g auch eine Verschlech­terung sein kann. Diese Sehnsucht nach Beständigk­eit ist verständli­ch. Die „offene Gesellscha­ft“stellt das nicht in Frage, auch ihr ist daran gelegen, gute Zustände zu bewahren. Und wenn dazu etwa Grenzen wieder nötig sind, dann wird das in einer offenen Gesellscha­ft wohl auch Konsens werden. Entscheide­nd ist, dass solche Überlegung­en im Fluss bleiben, dass sie diskutiert werden und revidiert werden können. Sonst setzt eine Verbarrika­dierung auch in den Köpfen ein, die früher oder später Menschen zu Opfern machen wird. Auch solche, die sich vermeintli­ch in Sicherheit wähnen in einer geschlosse­nen Gesellscha­ft.

Es kann im Lauf der Zeit keinen anderen Zustand als den der Durchlässi­gkeit geben, wenn man nicht mit gewaltvoll­en Mitteln gegen die Zumutungen des Wandels vorgehen will. Das ist keine simple Einsicht, sie verlangt nach Selbstvert­rauen und Optimismus – nach Offenheit.

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