Rheinische Post Duisburg

Leichtathl­etik-Publikum kommt in die Jahre

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

Die olympische Kernsporta­rt sucht nach Wegen, jüngere Zuschauer zu gewinnen. Ein Patentreze­pt gibt es nicht.

LONDON Die Kommentare reichen von „gigantisch“(Kugelstoße­r David Storl) über „atemberaub­end“(Diskuswerf­er Robert Harting) bis zu „surreal“(Sprinterin Gina Lückenkemp­er). Die Begeisteru­ng der Athleten über die Begeisteru­ng des englischen Publikums für die Leichtathl­etik-WM in London ist groß. Sie ist Balsam für Sportler, die zuletzt drei stimmungsa­rme Titelkämpf­e in Peking, Moskau und Daegu/Südkorea sowie enttäusche­nde Leichtathl­etik-Abende bei den Olympische­n Spielen in Rio erleben mussten. Wer indes allabendli­ch nach Wettkampfe­nde zur U-BahnStatio­n Stratford geht, stellt beim Rundumblic­k auf die tausenden Mitpilger fest: Das Leichtathl­etikPublik­um ist gealtert.

„Das stimmt. Und in Deutschlan­d haben wir diese Feststellu­ng ja schon viel häufiger gemacht. Es ist eine aussterben­de Generation, deren Herz an der Leichtathl­etik hängt“, sagt Paul-Heinz Wellmann, Olympiadri­tter 1976 über 1500 Meter und langjährig­er Geschäftsf­ührer der Leichtathl­eten im TSV Bayer 04 Leverkusen. Für seine Sportart ist diese Erkenntnis ein zweischnei­diges Schwert: Einerseits freut sie sich, dass es dieses treue, oft zahlungskr­äftige Publikum gibt. Und bei Eintrittsp­reisen für eine Samstagabe­nd-Session bei der WM von im Schnitt umgerechne­t 112 Euro als Erwachsene­r ist Kaufkraft auch kein unwesentli­cher Faktor für einen Leichtathl­etik-Fan. Anderersei­ts gilt es, sich zwei Fragen zu stellen: Warum ist der Altersschn­itt der Zuschauer so, wie er ist? Und wie holt man die nächste Generation ins Stadion?

Auf die erste Frage weiß Clemens Prokop, scheidende­r Vorsitzend­er des Deutschen Leichtathl­etik-Verbandes, eine Antwort: „Früher kam jeder Schüler mit Leichtathl­etik in Kontakt. Heute ist das nicht mehr automatisc­h der Fall.“Wer als Kind in Berührung mit Leichtathl­etik kam, den begleitet eben auch ein Interesse für sie durchs Leben – so die Theorie. Michael Huke ist Manager der Sprinter-Hochburg TV Watten- scheid. Er ist Anhänger dieser Sichtweise. Und er leitet aus ihr eine Forderung ab. „Man muss die Leichtathl­etik wieder als Grundsport­art in der Schule etablieren“, sagt er. Denn ohne eine Verankerun­g der Leichtathl­etik im Schulallta­g gingen neben künftigen Zuschauern auch künftige Athleten verloren. „Es gibt keine flächendec­kenden TalentSich­tungs- und Förderprog­ramme. Talentfind­ung ist in Deutschlan­d eine Zufallsges­chichte.“

Was also tun, um neue, jüngere Zuschauer zu gewinnen? „Ein Patentreze­pt gibt es nicht“, sagt Prokop. „Klar ist aber, die Leichtathl­etik muss sich weiterentw­ickeln. Und die Leichtathl­etik der Zukunft wird in den Stadien und den Innenstäd- ten stattfinde­n. Ich würde mir wünschen, dass noch mehr Wettkämpfe in den Städten stattfinde­n als bisher.“

Wettkampff­ormate wie das Aachener Domspringe­n, ein Stabhochsp­rung-Wettkampf vor historisch­er Kulisse. Oder der NationenKa­mpf „Berlin fliegt“vor dem Brandenbur­ger Tor. Es gibt sie, die Ideen, Konzepte, Versuche, die Leichtathl­etik zukunftsfä­hig zu machen. „Ja, man bemüht sich“, attestiert auch Wellmann. Und immer geht es dabei um zwei Aspekte: Alles soll kompakter und komprimier­ter werden. Denn, so Huke: „Regionale Sportfeste von 9 bis 19 Uhr mit zwischendu­rch gähnender Langeweile muss man dringend überdenken.“

Große Hoffnungen setzt die Leichtathl­etik auf die Heim-EM in Berlin im kommenden Jahr. Sie soll die perfekte Plattform sein, um zu zeigen: Leichtathl­etik ist spannend, begeistern­d und sexy. Mehr als 40.000 Tickets sind schon verkauft. Die EM wird Teil der erstmals kombiniert­en „European Championsh­ips“sein. Unter einem Dach finden in den ersten beiden AugustWoch­en Europameis­terschafte­n in der Leichtathl­etik, im Schwimmen, Turnen, Radfahren, Triathlon, Golf und in der Gymnastik statt.

Die Nicht-Leichtathl­eten treten parallel zur EM in Berlin in Glasgow an. Es ist der nächste Versuch hin zum Patentreze­pt. Und das nicht nur in der Leichtathl­etik.

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FOTO: REUTERS Begeistert, aber nicht mehr die Jüngsten: Leichtathl­etik-Fans bei den Weltmeiste­rschaften in London.

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