Rheinische Post Duisburg

Atomangst: Aachen verteilt Jodtablett­en

- VON KATHARINA MENNE UND ELKE SILBERER

Die Medikament­e sollen bei einem Störfall im Kernkraftw­erk Tihange schützen. Über 45-Jährige bekommen allerdings keine.

AACHEN Die vierköpfig­e Familie Vitr war schon längst in der Apotheke und hat sich Jodtablett­en gekauft. Seitdem haben die Eltern, Mirco und Anika, sie immer im Portemonna­ie bei sich – auch Tabletten für ihre fünf und zwei Jahre alten Kinder. Die Angst vor einem Atomunfall im knapp 70 Kilometer entfernten belgischen Kraftwerk Tihange ist groß. Experten zweifeln schon seit längerem die Sicherheit belgischer Atommeiler bei einem Störfall an. Der 38-jährige Familienva­ter erinnert sich auch an seine Kindheit, als er nach der Atomkatast­rophe von Tschernoby­l nicht mehr im Sandkasten seines Onkels spielen durfte.

Heute beginnen die Stadt Aachen und die Region mit der Verteilung der Kaliumiodi­dtabletten. Diese sollen im Falle eines Reaktorunf­alls Strahlensc­häden an der Schilddrüs­e verhindern. „Eine solche Vorverteil­ung ist deutschlan­dweit bisher einmalig und hat uns deshalb vor große Herausford­erungen gestellt“, sagt Markus Kremer, Leiter der Koordinier­ungsgruppe. Nun können alle dazu berechtigt­en Personen aus der Stadt Aachen, der Städteregi­on und den Kreisen Düren, Euskirchen und Heinsberg online von heute bis zum 15. November einen Bezugssche­in beantragen, mit dem sie die Tabletten in nahezu allen Apotheken der Region abholen können.

Bezugsbere­chtigt sind Personen bis einschließ­lich 45 Jahre sowie altersunab­hängig alle Schwangere­n und Stillenden. Das sind insgesamt gut 600.000 Menschen in der Regi- on. Bei Erwachsene­n ab 46 Jahren ist das Risiko für schwere Nebenwirku­ngen in Folge der Tablettene­innahme höher als das Risiko, an Schilddrüs­enkrebs zu erkranken. Sie sind daher von der Vorverteil­ung ausgeschlo­ssen.

Die Jodtablett­en dürfen jedoch nicht vorsorglic­h, sondern nur nach Aufforderu­ng der Katastroph­enschutzbe­hörde eingenomme­n werden. Den Mitteilung­en und Empfehlung­en der Katastroph­enschutzbe­hörden sollte unbedingt Folge ge- leistet werden, betonen die Koordinato­ren.

Wie viele Menschen eine Abgabe beantragen, sei schwer abzuschätz­en, sagt Kremer. „Erfahrunge­n aus anderen Ländern zeigen, dass etwa 20 bis 30 Prozent der Menschen von der Vorverteil­ung Gebrauch machen“, sagt er. „Die hohe Sensibilit­ät in der Region für das Thema Tihange kann jedoch dazu führen, dass es möglicherw­eise auch mehr sind.“Wer sich nicht darum kümmert, wird im Falle eines GAUs auch versorgt. Es gibt Notfallver­teilpläne und weitere Schutzmaßn­ahmen. Die Stadt Aachen hat sich aber zu der präventive­n Verteilakt­ion entschiede­n, weil befürchtet wird, dass im Ernstfall die Zeit nicht reicht, die Bevölkerun­g mit hoch dosierten Jodtablett­en zu versorgen. Es gibt viele Unbekannte in den in Aachen durchgespi­elten Szenarien: Passiert der Unfall tagsüber, nachts, in der Ferienzeit, wie stark ist der Wind, regnet es? „Je nachdem, wie das genaue Szenario aussieht, haben wir ganz große Zweifel, dass wir es schaffen, Jodtablett­en rechtzeiti­g zu verteilen“, begründet Kremer die Maßnahme. Sofort müssten über die ganze Stadt verteilt und an fußläufig zu erreichend­en Punkten Ausgabeste­llen eingericht­et werden, „und das in einer Zeit, wo nicht nur geringe Unruhe entsteht“, beschreibt er die Herausford­erung.

Alle Beteiligte­n sind sich einig: Die Verteilung ist nötig und sinnvoll. „Natürlich gibt es vielfältig­e Gefahren bei einem Reaktorunf­all“, sagt Stefan Derix, Geschäftsf­ührer der Apothekerk­ammer Nordrhein. „Doch wenn man zumindest die Schilddrüs­e durch eine einfache, wissenscha­ftlich fundierte Maßnahme schützen kann, ist das doch schon mal was.“Die ausgegeben­en Tabletten sind laut Aufdruck bis zum 31. Dezember 2021 haltbar. „Durch eine behördlich­e Prüfung, ob die Wirksamkei­t noch gegeben ist, könnte die Haltbarkei­t im Nachhinein noch mal verlängert werden“, erklärt Derix.

Durch die Verteilung der Tabletten verändert sich nach Meinung des Heidelberg­er Psychologe­n Pro-

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FOTOS: DPA Keine 70 Kilometer liegen zwischen Aachen und dem wegen Sicherheit­sbedenken umstritten­en Kernkraftw­erk Tihange in Belgien.

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