Rheinische Post Duisburg

Wahlkampf ist kein High Tea im Savoy

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Ein Sturm im Wasserglas wird im Wahlkampf schnell zum politische­n Seebeben. Wir Deutsche sind nicht nur „Meister im Luftreich der Träume“(Heinrich Heine), sondern tragen auch gerne die Maske des Empfindsam­en, sobald in Wahlkämpfe­n „geholzt“wird, wie es Willy Brandt einmal empfohlen hatte. Kaum hatte sich der von der CDU zur AfD geschwenkt­e Alexander Gauland über die Staatsmini­sterin für Integratio­n, Aydan Özoguz (SPD), geschmackl­os geäußert, erzeugte er wahre Wonnen der Empörung. Der frühere BGH-Richter Thomas Fischer, dessen Hang zu bösartiger Polemik fast bewunderun­gswürdig ist, erstattete sogar Strafanzei­ge. Da sitzt jemand als Dorfrichte­r Adam über eine Gemeinheit zu Gericht, die er als Kolumnist in Serie beging.

Pflegten wir noch mittelalte­rliche Gebräuche, stünde für Gauland, den kühl kalkuliere­nden AfD-Rüpel im Tweed, auf vielen Marktplätz­en das einst beliebte Sanktionsp­rogramm „Teeren und Federn“bereit. Niemand, der bei Trost ist, wird sich die scheinbare Pflicht zur Entgleisun­g in US-amerikanis­chen Wahlkämpfe­n für Deutschlan­d wünschen; aber

Willy Brandt, Helmut Schmidt, Herbert Wehner, Franz Josef Strauß – sie betonten noch die zweite Silbe des Wortes „Wahlkampf “.

vergessen wir doch bitte beim Wort Wahlkampf nie dessen zweite Silbe.

Natürlich rechtferti­gt die dreisttöri­chte Äußerung der Integratio­nsbeauftra­gten Özoguz, die „eine spezifisch­e deutsche Kultur jenseits der Sprache“bestreitet, nicht Gaulands Replik aus dem Wörterbuch der Abfallwirt­schaft. Aber Wahlkämpfe sind nicht so, als ob englische Ladies zum High Tea ins Savoy bitten oder Franziskan­er warme Suppe verteilen. Es sollte demokratis­ch kräftig mit Wort und Widerwort so gestritten werden, dass die sprichwört­lichen Fetzen fliegen. Wer erinnert sich noch an die Wahlschlac­hten mit Matadoren wie Helmut Schmidt, Franz Josef Strauß, Herbert Wehner, Willy Brandt? Wer weiß noch von historisch­en Parlaments­debatten, zu denen deftiges Vokabular („Schleimer“, „Dreckschle­uder“, „Zuhälter“, „Galgenkand­idat“, „Mini-Goebbels“, „Schnauze, Iwan“) ebenso gehörte wie rhetorisch und intellektu­elles Turnen am Hochreck des Hohen Hauses?

Die „Neue Zürcher Zeitung“stellte angesichts der wirklichen oder gespielten Erregung über Gauland die Frage nach den doppelten Standards bei Debatten. Hier eine Diffamieru­ng Özoguz’ („Wir werden sie dann in Anatolien entsorgen“), dort eine Beleidigun­g Deutschlan­ds durch ein Regierungs­mitglied. Die Zeitung hat recht: „Wenn selbst eine Person, die den Staat repräsenti­eren sollte, die eigene Kultur verneint, dann ist es verständli­ch, wenn man sie sich nicht gerade als Ministerin wünscht.“

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