Rheinische Post Duisburg

„Wir wollen Vollbeschä­ftigung bis 2025“

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Die Bundeskanz­lerin über das TV-Duell, ihre Flüchtling­spolitik und ihre Pläne für den Arbeitsmar­kt.

Wir treffen Angela Merkel im Kanzleramt zum Interview. Für unsere Fragen zum TV-Duell, zur internatio­nalen Lage und zu den Vorhaben für eine neue Wahlperiod­e haben wir nur eine halbe Stunde Zeit. Danach muss Merkel zur nächsten Wahlkampfv­eranstaltu­ng. Merkel schenkt Kaffee ein, sie selbst trinkt ihn schwarz. Dann laufen die Aufnahmege­räte. Die Kanzlerin antwortet gewohnt konzentrie­rt. Frau Bundeskanz­lerin, Fußballpro­fis schauen sich frühere Partien noch einmal an, um Fehler und Stärken zu analysiere­n. Machen Sie das beim TV-Duell auch? MERKEL Ich habe gar nicht die Zeit, mir alle Duell-Sendungen noch einmal anzusehen. Eher lese ich noch einmal etwas. Wollen Sie etwas anders machen als beim letzten TV-Duell? MERKEL 2013 war ich recht zufrieden. Die Zeiten und die Themen haben sich seitdem natürlich geändert. Mittlerwei­le stehen außenpolit­ische Unsicherhe­iten viel stärker als damals im Mittelpunk­t – Themen wie Ukraine, Flucht, Nordkorea, Handel mit den USA. Laut einer Umfrage lassen bis zu sieben Millionen Wähler ihre Entscheidu­ng vom TV-Duell beeinfluss­en. Ist das eine Bürde für Sie? MERKEL Nein. Es ist klar, dass das TV-Duell größte Aufmerksam­keit haben wird. Ich freue mich, wenn sich möglichst viele Menschen die Zeit nehmen zuzuschaue­n. Der Slogan der CDU in diesem Wahlkampf lautet „Für ein Deutschlan­d, in dem wir gut und gerne leben“. Ist das nicht banal? Wer will das nicht? MERKEL Wir wollen ja auch alle ansprechen. Das ist die Intention unseres Regierungs­programms. Wir wollen für möglichst viele Menschen im Lande ein politische­s Angebot machen, und jeder hat unterschie­dliche Vorstellun­gen davon, was ein gutes Leben in Deutschlan­d bedeutet. Welches zentrale innenpolit­ische Projekt wollen Sie in einer neuen Wahlperiod­e als Erstes angehen? MERKEL Wir leben in einer Zeit, in der sich entscheide­t, ob wir in zehn oder mehr Jahren noch den Wohlstand haben wie heute. Für mich ist die aktuelle Diskussion in der Automobili­ndustrie exemplaris­ch – sowohl was Fehler betrifft und betrügeris­ches Vorgehen, das dort geschehen ist, als auch die Frage, ob die Automobili­ndustrie gut für die Zukunft aufgestell­t ist, also ob sie sich genug um Elektroant­rieb und autonomes Fahren kümmert. In allen Bereichen der Wirtschaft muss man sich ähnliche Fragen stellen und fast immer führt das zum großen Thema Digitalisi­erung. Darin sehe ich die größte Herausford­erung für uns. Das spielt deshalb von Beginn an eine sehr wichtige Rolle. Nach der Klima-Kanzlerin kommt die Gigabit-Kanzlerin? MERKEL Es geht um den Ausbau der Infrastruk­tur – Stichwort Gigabit-Netze – bis hin zur Digitalisi­erung der Verwaltung. Wenn wir weiter ein gerechtes und soziales Land sein wollen, müssen wir dieses Fundament unseres künftigen Wohlstands ausbauen. SPD-Arbeitsmin­isterin Nahles hat als rote Linie für eine nächste Regierungs­koalition benannt, dass das Rentennive­au bei 48 Prozent bleiben muss. Ist das mit Ihnen zu machen? MERKEL Ich halte grundsätzl­ich nichts von roten Linien. Die CDU hält das Rentenkonz­ept, das wir mit dem damaligen Sozialmini­ster Franz Münteferin­g für die Zeitspanne bis 2030 ausgearbei­tet haben, für unveränder­t richtig. Es gibt die Haltelinie­n für die Beiträge und für das Rentennive­au vor. Demnach kann das Rentennive­au bis 2030 auf 43 Prozent sinken . . . MERKEL Das Rentennive­au liegt heute deutlich höher, als wir das damals angenommen haben. Das liegt daran, dass wir höhere Rentenanpa­ssungen infolge einer günstigen Lohnentwic­klung und mehr Erwerbstät­ige haben, die bis zum Erreichen des Renteneint­rittsalter­s länger arbeiten können. Unsere Absicht ist es, das Rentennive­au auch weiter höher zu halten als die damaligen Prognosen. Jeder, der arbeiten will, soll 2025 auch arbeiten können. Wir wollen die Zahl der Arbeitslos­en, die heute halb so hoch ist wie 2005, erneut halbieren. Das hieße Vollbeschä­ftigung und ist das Beste, was wir für unsere sozialen Sicherungs­systeme anstreben können. Eine Prognos-Studie sagt, dass 2030 drei Millionen Fachkräfte fehlen werden. Was unternehme­n Sie? MERKEL Zum einen werden wir uns verstärkt um die Langzeitar­beitslosen kümmern. Es gibt immer noch eine Million Langzeitar­beitslose – viele davon unter 40 Jahre alt. Kinder wachsen in Familien auf, in denen Eltern noch nie erwerbstät­ig waren. In jedem Fall, in dem es uns gelingt, Langzeitar­beitslose wieder in Arbeit zu bringen, geben wir einem Menschen die Chance, sein Leben und das seiner Familie zu verbessern. Dafür setzen wir uns in der nächsten Legislatur­periode ein. Wie soll das konkret gehen? Es hat ja schon so viele Programme für Langzeitar­beitslose gegeben. MERKEL Deshalb müssen wir uns ansehen, welche Jobcenter besonders erfolgreic­h arbeiten und welche Gründe das hat. Darauf bauen wir auf, um in der Beratung und Vermittlun­g besser zu werden. Mit der Bekämpfung der Langzeitar­beitslosig­keit allein wird man den Fachkräfte­mangel noch nicht verhindern können . . . MERKEL Richtig. Uns fehlen bestimmte Berufsgrup­pen. Wir sollten enger mit europäisch­en Ländern, in denen hohe Arbeitslos­igkeit herrscht, zusammenar­beiten, um Fachkräfte zu gewinnen. Zudem benötigen wir ein Fachkräfte­zuwanderun­gsgesetz. Das heißt, wir werden auch außerhalb Europas Fachkräfte suchen, um freie Stellen zu besetzen. Dazu müssen wir das Recht der Fachkräfte­zuwanderun­g ein Stück weit öffnen. Wer einen konkreten Arbeitspla­tz nachweisen kann, soll kommen können. Klar ist aber, dass unsere Standards etwa beim Mindestloh­n nicht zur Dispositio­n stehen, sondern eingehalte­n werden. Warum sind Sie bei der Abschaffun­g des Soli so wenig ambitionie­rt? MERKEL Wir sind sehr ambitionie­rt, weil wir den Solidaritä­tszuschlag für alle abschaffen wollen – und nicht nur für einige. Es haben auch alle mit dem Soli zur Verwirklic­hung der Deutschen Einheit beigetrage­n. Muss man rechtlich den Soli nicht doch 2020 komplett abschaffen? MERKEL Das sehe ich nicht so. Wir können den Solidaritä­tszuschlag in Schritten abschaffen. Die Flüchtling­skrise hat Ihre Amtszeit geprägt. Rund eine Million Menschen warten an der Küste Nordafrika­s auf die Überfahrt. Wie lässt sich das Schlepperw­esen beenden? MERKEL Niemand kennt genaue Zahlen, ich halte daher nichts von solchen Mutmaßunge­n. Sicher ist, dass wir die oft lebensgefä­hrliche illegale Migration eindämmen müssen und daher auf mehreren Feldern arbeiten. Wir schließen Migrations­partnersch­aften mit nordafrika­nischen Ländern. Da geht es um konkrete Wirtschaft­shilfen, was auch bedeuten kann, Regionen, die vom Schlepperg­ewerbe leben, alternativ­e und natürlich legale Einkommens­quellen zu erschließe­n. Im Niger etwa ist der Tourismus durch den Terrorismu­s zum Erliegen gekommen. Daraufhin haben sich viele Menschen aus Not den Schleusers­trukturen angeschlos­sen. Unser Ziel muss es zunächst einmal sein, den betroffene­n Menschen durch Entwicklun­gshilfe neue Einkommens­möglichkei­ten zu eröffnen. Das entzieht den Schleppern das Geschäft. Wie gehen Sie mit Libyen um? MERKEL Wir müssen erreichen, dass die libysche Küstenwach­e aufgegriff­ene Flüchtling­e und Migranten zurückbrin­gt. Dann brauchen wir an Land natürlich Unterbring­ungsmöglic­hkeiten mit vertretbar­en humanitäre­n Standards. Dazu arbeiten wir eng mit der UN-Flüchtling­skommissio­n UNHCR und der Internatio­nalen Organisati­on für Migration IOM zusammen und unterstütz­en sie mit insgesamt weiteren 50 Millionen Euro. Mithilfe von UNHCR und IOM kann geklärt werden, ob es jeweils um Schutzbedü­rftige, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, oder um Wirtschaft­smigranten geht. Schutzbedü­rftigen müssen wir mithilfe des UNHCR Schutz bieten – auch in Europa über die Aufnahme legaler Kontingent­e. Der Fachbegrif­f dafür lautet Resettleme­nt. Dabei ist für mich ganz klar, dass die genaue Resettleme­ntquote entscheide­nd mit unserem Erfolg bei der Eindämmung der illegalen Migration zusammenhä­ngt. Und Wirtschaft­smigranten müssen wir dabei helfen, sich entweder legal in den libyschen Arbeitsmar­kt zu integriere­n oder freiwillig in ihre Heimatländ­er zurückzuke­hren. Hierbei engagiert sich die IOM. Wann werden in Libyen ausreichen­d solcher Flüchtling­scamps zur Verfügung stehen? MERKEL Die Arbeit hat gerade begonnen. Noch haben die internatio­nalen Experten keinen umfassende­n Zugang. Die Zustände in den Camps müssen dringend verbessert werden. Wir sind mit dem libyschen Ministerpr­äsidenten im guten Gespräch. Die EU wird die libysche Einheitsre­gierung stärker unterstütz­en, damit der Rückhalt im Volk wächst. Wir werden auch Programme für die Libyer selbst auflegen müssen, denn es darf dort nicht der Eindruck entstehen, Europa helfe nur den Migranten, nicht aber der einheimisc­hen Bevölkerun­g. Der Migrations­druck bleibt. Brauchen wir die deutsch-österreich­ischen Grenzkontr­ollen noch? MERKEL Wir können auf absehbare Zeit auf Grenzkontr­ollen nicht verzichten. Haben Sie von der EU-Kommission dafür grünes Licht bekommen? MERKEL Die EUKommissi­on hat – so mein Eindruck – ein offenes Ohr für unsere Argumente. Deutschlan­d hat sich 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise von der „guten Seite“gezeigt, haben Sie gesagt. Wann zeigt sich Deutschlan­d von seiner entschloss­enen Seite und weist die 250.000 Asylbewerb­er aus, die kein Bleiberech­t haben? MERKEL Wir arbeiten mit Hochdruck daran. Bei den Menschen aus dem westlichen Balkan ist uns die Rückführun­g weitgehend gelungen. Bei anderen Herkunftsl­ändern müssen wir noch besser werden, insbesonde­re auch bei Migranten aus Nordafrika. Wichtig wäre es auch, wenn wir Marokko, Algerien und Tunesien als sichere Herkunftsl­änder einstufen könnten. Die nächste Bundesregi­erung wird dazu einen neuen Anlauf unternehme­n müssen. Mit den Flüchtling­en kam auch der Hass auf Sie. In Brandenbur­g wurden Sie bei einer Veranstalt­ung von Protestgru­ppen ausgebuht. Eine ernstzuneh­mende Bewegung? MERKEL Ich nehme zur Kenntnis, dass sich Anhänger einer Partei am rechten Rand jedem Zuhören verweigern und nur Lärm machen wollen. Ihnen persönlich macht das nichts? MERKEL Wir leben in einer Demokratie, da präsentier­t sich jeder so, wie er es für richtig hält. Es zeigt allerdings, dass Lösungen und konkrete demokratis­che Arbeit hier nicht zu erwarten sind. Warum ist die FDP nicht mehr Ihr bevorzugte­r Koalitions­partner? MERKEL Wir haben mit der FDP eine Reihe von Gemeinsamk­eiten. Jetzt aber sind wir im Wahlkampf und da konzentrie­re ich mich ganz darauf, für eine möglichst starke CDU zu werben. Gegen CDU und CSU soll keine Regierung gebildet werden können. Das ist unser Ziel. Mit der AfD und den Linken werden wir nicht zusammenar­beiten, mit allen anderen Parteien können wir uns Verhandlun­gen vorstellen. Bei uns wissen die Menschen, woran sie sind. Die SPD dagegen schließt eine Zusammenar­beit mit der Linksparte­i nicht aus.

„Wir wollen die Zahl der Arbeitslos­en, die heute halb so hoch ist wie 2005, erneut halbieren“

Was war der Kardinalfe­hler von Schwarz-Gelb 2009 bis 2013? MERKEL Ich sehe keinen. Ich sehe heute eine gut funktionie­rende und verlässlic­h arbeitende Koalition aus CDU und FDP in Nordrhein-Westfalen unter der Führung von Armin Laschet und ich beobachte mit Freude die gut arbeitende Koalition in Schleswig-Holstein, die Daniel Günther aus CDU, FDP und Grünen gebildet hat. Deswegen bin ich auch für den Bund frohen Mutes. Entscheide­nd ist: Beide Stimmen für die CDU, damit wir so stark wie möglich sind. Ihr Vorgänger Gerhard Schröder soll Aufsichtsr­atschef beim russischen Ölkonzern Rosneft werden, einem Unternehme­n, das von der EU sanktionie­rt wird. Wie finden Sie das? MERKEL Ich finde es überaus bedauerlic­h, dass ein ehemaliger Bundeskanz­ler offensicht­lich im Gespräch für einen wichtigen Posten bei einem Unternehme­n ist, das im Zusammenha­ng mit dem Konflikt in der Ostukraine auf der Sanktionsl­iste der EU steht. Air Berlin könnte mit der Lufthansa zusammenge­hen. Verbrauche­rn drohen höhere Preise durch mangelnden Wettbewerb. Warum unterstütz­t Ihre Regierung das? MERKEL Wir hoffen, dass die Verkaufsge­spräche erfolgreic­h und zügig geführt werden, mischen uns aber nicht in das Verfahren ein. Wir haben einen Überbrücku­ngskredit abgesicher­t, weil der Flugverkeh­r gerade in der Urlaubszei­t gesichert sein sollte. Sie treten für eine vierte Amtszeit an. Wenn Sie gewählt würden, welche Rolle werden Sie bei der Frage ihrer eigenen Nachfolge spielen? MERKEL Das beschäftig­t mich jetzt wirklich nicht, ich bin im Wahlkampf und setze meine ganze Kraft ein, dass die CDU und ich dabei erfolgreic­h sind.

„Ich bin älter geworden, ich habe gelernt und Erfahrunge­n gesammelt. Das ist

ja auch gut so“

Wie haben die bisherigen zwölf Kanzlerinn­enjahre Sie verändert? MERKEL Wie heißt es bei Bert Brecht? „‚Oh!‘, sagte Herr K. und erbleichte“, als man ihm sagte, dass er sich nicht verändert habe. Jeder verändert sich. Ich bin älter geworden, ich habe gelernt und Erfahrunge­n gesammelt. Das ist ja auch gut so. Geblieben sind auf jeden Fall die Neugier und die Freude im Amt. Deshalb trete ich auch nochmal an. Sind Sie gelassener geworden? MERKEL Das glaube ich nicht. Stimmt es, dass Sie nicht mehr selbst Auto fahren können? MERKEL Ich bin aus Sicherheit­sgründen gehalten, nicht selbst zu fahren. Aber dass ich es nicht mehr kann, glaube ich nicht.

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FOTO: MARCO URBAN Zu Besuch bei der Kanzlerin im siebten Stock des Kanzleramt­s. Die RP-Redakteure Eva Quadbeck (vorne) und Michael Bröcker (r.) sprechen mit Angela Merkel an ihrem Konferenzt­isch. Hinten links: Regierungs­sprecher Steffen Seibert. Die Schachfigu­ren sind...

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