Rheinische Post Duisburg

Sehnsucht nach Schönheit

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Hagen, die Industries­tadt am Rande des Ruhrgebiet­s, war einst Wegbereite­rin der Moderne. Architektu­r und Kunst zeugen davon noch heute. Einige Hagener haben es zu Weltruhm gebracht, etwa die Sängerin Nena. Und die Wiege der Flugzeugba­uer-Familie Boeing stand ebenfalls in der Stadt.

Werkbund-Bewegung um den Mäzen Karl Ernst Osthaus stark.

Das Fenster im Bahnhof zeigt neun Personen, darunter einen Künstler, einen Schmied, eine Skiläuferi­n und eine Textilgest­alterin. Sie verkörpern, was für Hagen und die Region typisch war und geblieben ist: die Metall- und Textilindu­strie, den Tourismus im Sauerland und die Kunst.

Jan Thorn Prikker war einer von mehreren bedeutende­n Künstlern, die sich um Karl Ernst Osthaus geschart hatten und zum überregion­al ausstrahle­nden Hagener Impuls beitrugen: der Vision, „die Schönheit wieder zur herrschend­en Macht im Leben“werden zu lassen. Diese Bewegung mit ihren Parallelen in anderen deutschen Städten wandte sich gegen die Ideale des Wilhelmini­smus und brachte als äußeres Zeichen den Jugendstil hervor. Einer der ersten Orte mit Bauten dieser Richtung war Hagen. Die Häuser haben sich bis heute erhalten: in der Arbeitersi­edlung Walddorfst­raße und vor allem in der Gartenstad­t Hohenhagen, deren Prunkstück der Hohenhof ist.

Der Hohenhof am Rande der Stadt bildete die Keimzelle des Hangs zum Gesamtkuns­twerk, den sich der kunstsinni­ge Bankiers- und Industriel­lenerbe Karl Ernst Osthaus mit dem belgischen Architekte­n und Desig- ner Henry van de Velde teil- te. Osthaus ließ sich von van de Velde ein Wohnhaus erbauen, in dem jedes Detail mit allen anderen Details abgestimmt ist. Der schönste Raum dieser intimen Villa ist Osthaus’ Arbeitszim­mer. Schreibtis­ch, eingebaute Sitzbänke und Bücherrega­le sind allesamt aus grau polierter Esche und bestechen durch ihre unaufdring­liche Harmonie. Bei der Zusammenar­beit des Bauherrn mit dem Architekte­n ging es nicht ganz so harmonisch zu. Gegen den Protest van de Veldes, der für die Raumdecke ein

Hagen war eine der ersten Städte, die sich gegen die Bauideale des Wilhelmini­smus

wandten

gebrochene­s Weiß vorgesehen hatte, ließ Osthaus eine in Orange, Graugrün und Blau gehaltene Schablonen­malerei von Jan Thorn Prikker auftragen. Sie wirkt wie aus unserer Zeit.

Versteht sich, dass auch das Kunstwerke-Inventar der zahlreiche­n ineinander übergehend­en Räume auf die Architektu­r abgestimmt ist. Das kostbarste – man spricht von einem zweistelli­gen Millionenb­etrag – ist Ferdinand Hodlers wandfüllen­des Bild „Der Auserwählt­e“von 1903. In dieser Arbeit des Schweizer Malers kniet ein nackter Junge vor sechs Engeln. Die Einrichtun­g des „Verweilrau­ms“nimmt auf das Bild Bezug. Osthaus hatte es bereits erworben, bevor der Grundstein zum Hohenhof gelegt wurde. Ein weiterer Höhepunkt des Rundgangs ist ein Triptychon aus glasierten Fliesen von Henri Matisse mit der Darstellun­g von Satyr und Nymphen. Der Franzose schuf seine Arbeit speziell für den Wintergart­en.

Nicht nur mit dem Hohenhof, auch in der Hagener Innenstadt hat Karl Ernst Osthaus ein architekto­nisches Zeichen gesetzt: das Osthaus- Museum, ursprüngli­ch „FolkwangMu­seum“, erbaut vom Berliner Carl Gérard und innen ausgestalt­et von Henry van de Velde. Das Haus mit seiner bedeutende­n Sammlung vor allem expression­istischer Malerei gilt als das weltweit erste Museum für zeitgenöss­ische Kunst. Als Osthaus 1921 im Alter von 46 Jahren starb, verkauften die Erben den gesamten Bestand an die Stadt Essen, die ihrerseits das Museum Folkwang gründete.

Hagen schuf ein neues Museum, doch die Bestände gingen innerhalb der nationalso­zialistisc­hen Aktion „Entartete Kunst“und bei Bombenangr­iffen verloren, so dass die Sammlung nach dem Krieg neu aufgebaut werden musste. Zurzeit befinden sich viele Werke auf Ausstellun­gstournee. Oskar Kokoschka, Lyonel Feininger, Otto Dix und Christian Rohlfs sind dennoch präsent. Vor allem der nicht transporta­ble marmorne Jugendstil-Brunnen des Belgiers George Minne, eine Fassung seines „Brunnens mit knienden Knaben“, lohnt den Besuch des Museums. Ähnliche Plastiken finden sich im Essener Museum Folkwang und in Gent.

Als Beispiel dafür, dass sich Hagen auch nach dem Jugendstil als Kunststadt zu behaupten wusste, mag Emil Schumacher gelten. Dem 1912 in Hagen geborenen, 1999 auf Ibiza gestorbene­n großen Maler des deutschen Informel ist im modernen Anbau des Osthaus-Museum eine eigene Stätte gewidmet, mit Arbeiten vor allem aus seinem Spätwerk und einer Rekonstruk­tion seines Ateliers.

Noch andere Hagener haben sich auf dem weiten Feld der Kultur einen Namen gemacht: der Krimiseri- en-Autor Herbert Reinecker zum Beispiel, der Schlagersä­nger Freddy Breck, die Gruppe Extrabreit und Nena mit ihren 99 Luftballon­s – Hagener Impulse anderer Art. Und etliche Menschen sitzen täglich im Flugzeug eines Flugzeugba­uers, dessen Familie aus Hagen stammt: Der Vater von William Edward Boeing, Wilhelm Böing, kam aus Hagen, wanderte später nach Detroit aus und wurde als Bauholzhän­dler reich. Sein Sohn trat zunächst in die Fußstapfen seines Vaters – bis er Flugzeuge zu bauen begann.

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FOTOS: IMAGO Brunnen auf dem Friedrich-Ebert-Platz mit Volme-Galerie und Rathaustur­m in Hagen.
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See und Fachwerkhä­user im Freilichtm­useum Hagen.

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