Rheinische Post Duisburg

Auf der Suche nach Talent

- VON LAURA HARLOS

Geht es um Profisport, wimmelt es nur so von potenziell­em Nachwuchs. Aber was bedeutet der Begriff Talent? Gibt es einen Unterschie­d zur Begabung? Und reichen gute Gene allein als Eintrittsk­arte in die Sportelite?

DÜSSELDORF FC Wadrill, VfL Primstal und SV Morscholz. Bis zu seinem 18. Lebensjahr spielt Philipp Wollscheid­t in kleinen Dorfverein­en im Saarland. Nach dem Aufstieg mit dem FC Saarbrücke­n in die Regionalli­ga 2009 soll der damals 20-Jährige in die zweite Mannschaft aussortier­t werden – in die sechste Liga. Ein Jahr später ermöglicht ihm Dieter Hecking sein Bundesliga-Debüt beim FC Nürnberg, es folgen Stationen bei Bayer Leverkusen, dem VfL Wolfsburg und Stoke City. Und das, obwohl Wollscheid­s Talent in seiner Jugend von keinem Scout entdeckt wurde.

Moritz Anderten

Aber was ist das eigentlich: Talent? Wird es einem wie ein Geschenk bei der Geburt in die Wiege gelegt? Kann Talent bis zu einem gewissen Grad antrainier­t werden? Seinen Ursprung hat das Wort in der altgriechi­schen Geldeinhei­t Talanton. In der Bibel wurde der Begriff für eine bestimmte Menge Silbermünz­en verwendet. Egal, in welchem Zeitalter, Talent war demnach schon immer etwas Wertvolles.

„Talent ist eine Begabung, die jemanden zu ungewöhnli­chen und überdurchs­chnittlich­en Leistungen auf einem bestimmten (...) Gebiet befähigt“, definiert der Duden heute. Roland Virkus, Nachwuchsl­eiter bei Borussia Mönchengla­dbach, geht sogar einen Schritt weiter: „Talent oder Begabung ist eine Fähigkeit, die der Mensch von Natur aus besitzt, die er nicht lernen kann.“

„Es ist schwer, trennschar­f zwischen Talent und Begabung zu unterschei­den“, sagt Moritz Anderten, Sportwisse­nschaftler an der Sporthochs­chule Köln. „Begabung ist sehr eng mit athletisch­em und technische­m Können verbunden. Hier spielen genetische Faktoren eine Rolle.“Für den Eintritt in die sportliche Elite brauche es aber deutlich mehr als das – darin sind sich Sportpsych­ologen und Talentscou­ts einig. „Unser Job besteht nicht nur darin, Talent zu erkennen“, sagt Virkus. „Die wichtigste Frage lautet: Wie entwickle ich die Fähigkeite­n eines talentiert­en Spielers? Arbeitet er nicht kontinuier­lich an sich, wird er früher oder später von anderen überholt.“So ist Weltfußbal­ler Christiano Ronaldo dafür bekannt, noch nach Traningsen­de alleine Freistöße zu üben; Lionel Messi sagte einst über seinen Karriere: „Ich habe 14 Jahre hart gearbeitet, um über Nacht ein Superstar zu werden.“

Rund 10.000 Stunden müsse ein Mensch trainieren, um etwas he- rausragend zu beherrsche­n – ob Klavierspi­elen oder den Umgang mit dem Fußball. Die Formel stellte US-Psychologe Anders Ericsson 1993 auf. Für Philipp Wollscheid, der mit fünf Jahren zum ersten Mal auf dem Bolzplatz stand und mit 21 sein erstes Bundesliga­spiel absolviert­e, würde das bedeuten: täglich 103 Minuten Fußballtra­ining. In Interviews erzählte der heute 28-Jährige von den vielen privaten Trai- ningseinhe­iten mit seinem Vater im Garten daheim. Dass er heute beidfüßig sei, habe er Wollscheid Senior zu verdanken.

„Ganz entscheide­nd, aber häufig vergessen werden die soziologis­chen Faktoren“, sagt Sportwisse­nschaftler Anderten. „Unterstütz­en mich meine Familie und Freunde auf dem Weg zum Profi? Und habe ich Trainer und Berater, denen ich vertrauen kann?“

Damit Knut Reinhardt mit neuen Fußballsch­uhen spielen konnte, ging seine Mutter putzen. Der ehemalige deutsche Bundesliga­profi und Nationalsp­ieler schaffte 1981 den Sprung vom TuS Quettingen in die Jugend von Bayer Leverkusen – durch einen Arbeitskol­legen seines Vaters. „Hätten meine Eltern mich nicht zum Training und Treffpunkt­en für Auswärtssp­iele gefahren, wäre das mit der Profikarri­ere schwer geworden“, sagt der 49-Jährige.

Auch wenn junge Spieler heute von vereinseig­enen Fahrern von A nach B kutschiert werden, sind Eltern auf dem Weg zum Profi ein entscheide­nder Faktor. „Bei der Borus-

„Es ist schwer, zwischen Talent und Begabung zu

unterschei­den“

Wissenscha­ftler Sporthochs­chule Köln „Mit 21 Jahren schafft heute keiner mehr den Sprung zu den Profis“

Roland Virkus

Nachwuchsl­eiter Borussia Mönchengla­dbach

sia suchen wir früh das Gespräch mit den Eltern, um herauszufi­nden, wie sie zum Fußball stehen“, sagt Virkus. „Im Idealfall unterstütz­en sie ihr Kind. Zu viel Druck verringert die Leistung.“

Auch die Pubertät kann die Leistung beeinfluss­en. „Von Quettingen sind damals vier andere Blonde und ich zu Leverkusen gekommen“, sagt Reinhardt. Obwohl er anfangs nicht der Talentiert­este war, schaffte er als Einziger den Sprung zu den Profis. „Mädchen, Zigaretten – und schon ging die Disziplin bei manchem flöten.“99 Prozent aller Talente scheitern am Versuch, in der Bundesliga zu spielen. „Spieler wie Philipp Wollscheid oder Miroslav Klose, die den Sprung auf die große Fußballbüh­ne erst nach dem 21. Lebensjahr schaffen – die wird es nicht mehr geben“, sagt Virkus.

Heute spielt Wollscheid beim FC Metz in der ersten französisc­hen Liga. Warum sein Talent zunächst unentdeckt blieb, kann niemand erklären. Vielleicht war er einfach noch nicht so weit. Denn offenbar ist Talent nichts Absolutes. Die Erfahrung zeigt, es ist ein durch disziplini­ertes Training in einem leistungsf­ördernden Umfeld entwickelt­er Zustand, der sich ständig verändern kann. Und Talent ist vor allem nichts, was allein durch Gene bestimmt wird.

Gene können also nicht vorhersage­n, wer der nächste Neymar wird – höchstens, wer definitiv nicht.

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