Rheinische Post Duisburg

Irren ist sportlich

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Hat in Dortmund der Videoschie­dsrichter das Spiel entschiede­n? Darauf wird es keine Antwort geben können. Doch wächst inzwischen eine andere Ahnung: dass der Videobewei­s dem Wesen menschlich­en Spielens widerspric­ht.

Keine Frage, dieses Spiel in Dortmund wäre ganz anders verlaufen. Sagen die einen, also die Kölner. I wo, viel zu deutlich sei der Leistungsu­nterschied gewesen, brüsten sich die 5:0 siegenden Dortmunder. Tor oder nicht Tor, das ist nur eine Frage an diesem wahrhaft tragischen Abend. Die andere: Durfte der Videoschie­dsrichter überhaupt eingreifen und das Tor geben? Ausgerechn­et der frisch eingeführt­e Videobewei­s – mit dem die Fehlerquot­e der Schiedsric­hter deutlich minimiert werden sollte – könnte ein juristisch­es Nachspiel und eine Neuansetzu­ng des Spiels zur Folge haben.

Ein Kuriosum? Eher nicht. Denn die Absoluthei­t, die zum Kern des Beweises gehört, wird ihrem Anspruch nie gerecht werden. Sie ist darum auch viel angreifbar­er als eine mehr oder weniger schnöde Fehlentsch­eidung des Schiedsric­hters. Konnte man früher seine Wut auf den angeblich Unparteiis­chen da unten auslassen, muss nun eine höhere Instanz angerufen werden. Die Folge davon wird sein: pompöse Gerichtsve­rhandlung statt kurzes Pfeifkonze­rt. Bei übereifrig­er ungeschick­ter Handhabung könnte der Videobewei­s auch bewirken, dass immer öfter Spieltage selbst nach dem Wochenende nicht beendet sein werden. Der deutsche Fußball wird ganz neue Verlängeru­ngen kennenlern­en. Das ist ziemlich ärgerlich im schnurrend­en Bundesliga­betrieb. Fatal aber wäre eine solch verzwickte Situation etwa beim DFB-Pokal-Endspiel. Würde man dann vorsichtsh­alber den Pokal erst einmal nicht überreiche­n?

Die Frage nach Sinn und Unsinn von Videobewei­sen berührt tiefere Schichten des Spiels. Und dass am Sonntag selbst von der Südtribune – die eigentlich Biotop jedes eingefleis­chten Borussen ist – die Videoentsc­heidung mit Rufen kommentier­t wurde wie „Ihr macht unseren Sport kaputt“, lässt darauf schließen, dass im „Sündenfall“zu Dortmund viele mehr als nur den kuriosen Einzelfall sehen. Sie fürchten um das Wesen des Spiels.

Zu Recht. Denn mit dem Videobewei­s wurde derart grundlegen­d ins Spiel eingegriff­en, dass es sein Wesen verändern muss. Neben etlichen anderen hat der niederländ­ische Anthropolo­ge Johan Huizinga (1872–1945) das Spiel so zu definieren versucht: als etwas Freiwillig­es, das sich zu einer festgesetz­ten Zeit in einem definierte­n Raum (dem Spielfeld) nach festen Regeln ereignet. So weit, so gut – und so passend auch fürs Fußballspi­el. Mit dem Videobewei­s, genauer: mit dem externen Videoschie­dsrichter wird das Spielfeld aber verlassen oder auch aufgebroch­en. Die Entscheidu­ng in brenzligen Situatione­n wird damit außerhalb der Wahrnehmun­g der Zuschauer gefällt. War der Schiedsric­hter einst als fleißiger „Mitläufer“auf dem Feld ein selbstvers­tändlicher Teil des Spiels, wirken jetzt seine im wahrsten Sinne externen Kollegen unsichtbar mit. Wie eine Art „Deus ex machina“. Diese Inszenieru­ng weckt dann ein Gefühl der Ohnmacht – bei allen unmittelba­r und mittelbar Beteiligte­n. Der Videobewei­s nimmt etwas Unheimlich­es an.

Die Sportfunkt­ionäre dürften es kaum im Sinn gehabt haben, dass ihr Bemühen um Wahrheitsf­indung zu den antiken Ursprüngen des Spiels führt. Das sollen nämlich nach den Vorstellun­gen der Griechen die Götter selbst erfunden haben. Und wenn Götter so etwas tun, ist meist auch heiliger Ernst im Spiel. Plötzlich gab es sogenannte Glücksgött­er, und mancher Kriegsherr soll seine Strategie von einem zuvor getätigten Spiel abhängig gemacht haben. Eine unter Umständen fatale Spielleide­nschaft.

Mit dem Tod der antiken Götter und dem Ende ihres Einflusses auf die sterbliche­n Erdenbewoh­ner hat sich auch das Wesen des Spiels gewandelt. Es ist tatsächlic­h spielerisc­her im heutigen Sinne geworden, also zweckfreie­r, selbstverg­essener. Das Spiel um des Spielens willen kam in Mode. In ihm soll das Wesen zum Vorschein kommen, hieß es jetzt. In seinem großen Werk „Homo Ludens“schreibt Huizinga, dass die Kultur vor allem im Spiel entsteht. Ein bisschen emphatisch­er hat das Friedrich Schiller beschriebe­n: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Wenn sich der Mensch im Spiel erkennt und entfaltet, dann ist Irren nicht nur menschlich, sondern auch sportlich. Das ist kein extravagan­tes Lob für Fehler. Aber ein Bekenntnis, dass Irren zum Spiel gehört und dass alle Beteiligte­n um die Möglichkei­t der Verfehlung wissen. Im Spiel ruht die Einsicht, dass unsere Meinungen und Urteile kein Abbild der Wirklichke­it sein müssen.

Das wird potenziert gerade beim Fußballspi­el. Es ist dort der Augenblick, der zählt, der kurze authentisc­he Moment – komprimier­t im geschlosse­nen Raum der Arena. Was sich abspielt, ereignet sich im Hier und Jetzt. Der Rat von außen und die Unterbrech­ung des Spiels denunziere­n dieses Umfeld.

Schon mit dem Begriff des Videobewei­ses wird eine andere Ebene beschritte­n. Denn mit dem „Beweis“wird zumindest vom Vokabular her auch ein juristisch­es Feld betreten. So, als stünde die Tor-Entscheidu­ng vor dem Gesetz; und es wird suggeriert, als gäbe es stets die eine, verlässlic­he, unumstößli­che Wahrheit. Weil es die nur selten gibt, werden mit dem Videobewei­s Fehlentsch­eidungen angreifbar­er als zuvor.

Eigentlich ist es kaum zu glauben, dass so kurz nach der Einführung dieser Technik der Vorgang sich selbst entlarvt. Im Spiel zu Dortmund sogar in der Form einer Götterdämm­erung – weil es das Tor, das der Videoschie­dsrichter den Borussen zuerkannte, gar nicht gab. Der Schiedsric­hter auf dem Platz hatte das Spiel abgepfiffe­n, bevor der Ball die Torlinie passierte. Ein Tor in die Welt zu setzen, das nicht existiert, ist der letzte Beweis – nämlich ein ziemlich skurriler Gottesbewe­is.

Es klingt merkwürdig,

aber: Mit dem Videobewei­s werden Fehlentsch­eidungen angreifbar­er als zuvor

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FOTO: AP Lexi Thompson

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