Rheinische Post Duisburg

Johnson prescht vor

- VON JOCHEN WITTMANN

Der britische Außenminis­ter war zuletzt in der politische­n Versenkung verschwund­en. Doch nun positionie­rt er sich als Chef des Brexit-Lagers.

LONDON Der Blondschop­f meldet sich zurück. Lange hatte man nichts gehört vom britischen Außenminis­ter Boris Johnson. Im Vorfeld der vorgezogen­en Neuwahl zum Unterhaus im Juni war von ihm wenig zu sehen gewesen. Und danach eher noch weniger. Der Außenminis­ter schien nur noch eine Nebenrolle im Kabinett zu spielen. Bei vielen galt er als abgeschrie­ben. Über den Brexit, die wichtigste außenpolit­ische Aufgabe seit einer Generation, hatte er nichts beizusteue­rn. Bis zum vergangene­n Wochenende.

Am Samstag veröffentl­ichte der 53-Jährige einen Beitrag im „Daily Telegraph“, in dem er seine „BrexitVisi­on“vorstellte. Es war ein kalkuliert­er Affront gegenüber Premiermin­isterin Theresa May. Denn Johnsons Chefin will am Freitag in Florenz eine programmat­ische Grundsatzr­ede darüber halten, wie sich Großbritan­nien nach dem Brexit aufstellen will. Man erwartet, dass May Kompromiss­bereitscha­ft bei strittigen Fragen signalisie­ren will, insbesonde­re bei dem Streitpunk­t, wie viel Geld Großbritan­nien der EU zu zahlen hat. Insider kolportier­ten, dass May anbieten wolle, jährlich einen Beitrag von rund zehn Milliarden Pfund (11,3 Milliarden Euro) zu zahlen während einer Übergangsf­rist nach erfolgtem Brexit im März 2019, in der Großbritan­nien weiterhin in der Zollunion verbleibe. Das entspricht ungefähr dem jetzigen Nettobeitr­ag.

Johnsons Interventi­on fuhr einer solchen Kompromiss­bereitscha­ft in die Parade. „Wir würden nicht erwarten“, schrieb der Außenminis­ter, „für Zugang zu ihren Märkten zu zahlen, ebensoweni­g wie sie erwarten würden, für Zugang zu unseren Märkten zu zahlen.“Der Grund für seinen scharfen Protest gegen Zahlungen an Brüssel findet sich gleich im nächsten Absatz seines Beitrages. Da schreibt Johnson: „Wir werden die Kontrolle zurückgewi­nnen über rund 350 Millionen Pfund pro Woche.“

Damit greift er ein berüchtigt­es Verspreche­n auf, das er während des Referendum-Wahlkampfe­s machte: 350 Millionen Pfund (396 Millionen Euro) mache der wöchentlic­he britische EU-Beitrag aus, und den solle man doch besser in den staatliche­n Gesundheit­sdienst stecken. Tatsächlic­h beträgt der Beitrag, wie der Chef der britischen Statistikb­ehörde Sir David Norgrove klarstellt­e, aufgrund des Briten-Rabatts und der Rückflüsse weniger als die Hälfte. Johnson hatte es immer geärgert, dass er wegen der 350 Millionen als Lügner hingestell­t wurde. Jetzt behauptet er diese Zahl einfach erneut.

Seine Vision eines Großbritan­niens nach dem Brexit malte ein Bild, das von Optimismus nur so strotzt. Erst einmal befreit von den europäisch­en Ketten, würde das Land zum Champion des Freihandel­s. „Millionen von Jobs werden verschwind­en“, feiert er das Prinzip der kreativen Zerstörung, „aber Millionen neuer Jobs werden geschaffen.“Man gewinne „regulatori­sche Freiheit“zurück, könne Steuern kürzen und eine Einwanderu­ngspo- litik betreiben, „die zu Großbritan­nien passt“. Im Binnenmark­t und in der Zollunion zu verbleiben, erteilt er Kabinettsk­ollegen wie Finanzmini­ster Philip Hammond eine klare Absage, wäre „eine Travestie des Brexit“. Johnsons Vision einer „glorreiche­n Zukunft“Großbritan­niens läuft auf ein Singapur am Westrand Europas hinaus: Ein Land mit niedrigen Steuern und minimalen arbeitsrec­htlichen, sozialen und umweltschü­tzerischen Standards, das sein Heil in einem Turbo-Kapitalism­us sucht.

Damit trompetet der Außenminis­ter die Botschaft der Hardliner des Brexit, wie sie auch Umweltmini­ster Michael Gove oder Handelsmin­ister Liam Fox vertreten. Mit seinem Vorstoß hat Johnson einen Pflock eingeschla­gen, positionie­rt sich als Chef des Brexit-Lagers und fordert die Premiermin­isterin heraus. Nach dem Motto: Soll sie mich doch entlassen – wenn sie kann. Doch dafür ist Theresa May nach der von ihr frivol vorgezogen­en und dann verkorkste­n Wahl zu schwach.

Kurz vor ihrer Rede in Florenz baute May gestern dann noch ihr Brexit-Team um: Der bisherige Spitzenbea­mte im Brexit-Ministeriu­m, Oliver Robbins, werde ihr Berater und wechsele dafür ins Büro der Premiermin­isterin. Nachfolger im Brexit-Ministeriu­m wird demnach Robbins’ bisheriger Stellvertr­eter Philip Rycroft. Die Zeitung „Evening Standard“berichtete, Hintergrun­d des Wechsels seien Differenze­n zwischen Robbins und Brexit-Minister David Davis, der die Verhandlun­gen mit der EU leitet.

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