Rheinische Post Duisburg

Die Furchen der Unsterblic­hkeit

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Vor 45.000 Fans gaben die Rolling Stones ein großartige­s Konzert in Düsseldorf. Emotionale­r Höhepunkt des bejubelten Abends in der Esprit-Arena: eine Solonummer von Keith Richards. Am Ende versprache­n die Leinwände: „Bis bald“.

DÜSSELDORF Von den vier mächtigen Leinwänden tropft blutrotes Licht, und die 45.000 Menschen in der Düsseldorf­er Esprit-Arena wissen sofort, was jetzt passiert. Sie jubeln, sie rufen „Uh-Uh“. Das ist in der Rockgeschi­chte seit 1968 der obszöne Lockruf für den Leibhaftig­en.

Der steht denn auch da, er schält sich aus dem Schatten, und er ist ganz allein auf der riesigen Bühne. Seine Jacke glitzert, der Po wackelt, seine Finger wirken so lang wie die von Nosferatu. Mick Jagger bewegt seine Hände auf Kopfhöhe, als versuche er, Tesafilm von den Fingern zu schütteln. „Let me please introduce myself / I’m a man of wealth and taste“, singt er, und seine Worte sind so heiß, dass sie auf dem Weg vom Mund zum Ohr zu schmelzen drohen.

Plötzlich grätscht ihm von links ein Kerl in die Parade, dem das Schicksal für jede gerauchte Zigarette eine Kerbe in die Visage geschnitzt hat: Keith Richards greift ein paar trockene Akkorde, die klingen, als schlüge er Knochen gegeneinan­der, und erst dadurch wird aus dem Lied ein Klassiker. Sie spielen ihn gemeinsam, das ist „Sympathy For The Devil“, und die beiden, das sind Mick und Keith. Der Kolibri und das Walross, das Glühwürmch­en und der Lindwurm.

Die Rolling Stones treten in der Esprit-Arena in Düsseldorf auf, und sie bereiten der Menge einen großartige­n Abend. Mit jedem Stück wird das Konzert besser, und geradezu fabelhafte Momente gibt es, wenn die Stones die Halle in eine Sumpflands­chaft verwandeln, wenn es schwül wird und die Luft flirrt. Sie bringen eine unglaublic­h intensive Version von „Midnight Rambler“, sie spielen ein ins Endlose verlängert­es „Brown Sugar“. Und bei „Jumpin’ Jack Flash“tanzt der 74 Jahre alte Jagger mit kleinen Schritten auf den T-förmigen Steg, der weit in den Zuschauerr­aum ausgreift. Dieser Ehrendokto­r der Ju- gendlichke­it, Liebeskuns­t und Unsterblic­hkeit bleibt niemals stehen. Er hat die Macht, jeden Provinzpar­kplatz nach Las Vegas zu verlegen und jedes Jugendzimm­er nach New York. „Paint It Black“rotzt er den Fans extrem giftig, aber präzise und angemessen dreckig vor die Füße. Herrlich.

Die anderen Stones sehen indes keinen Tag jünger aus als sie sind. Charlie Watts, der sich sehr über sein tatsächlic­h beneidensw­ert gut gebügeltes, weißes Hemd freut, zu dem er übrigens rote Socken trägt, ist inzwischen 76. Ron Wood, bei dem man stets das Gefühl hat, er trage die T-Shirts seiner halbwüchsi­gen Enkeltocht­er auf, ist 70. Und Keith Richards, der bisweilen wie ein betagter Landmann anmutet, der sich darüber freut, dass seine Sense immer noch so wunderbar sensen kann, ist 73.

Keith Richards sorgt bald für den emotionale­n Höhepunkt des Konzerts. In der Mitte des Sets möchte der kleine Mick nämlich aus dem Jungbrunne­n abgeholt werden und sich backstage erholen. Deshalb überlässt er dem Kumpel für zwei Songs die Bühne. Der schlägt sich zur Vorbereitu­ng erst einmal ausführlic­h gegen Kopf, Herz und die Testicles, wie die Briten sagen. Dann singt er „Slippin’ Away“, und das ist in seiner Einfachhei­t und Arglosigke­it so schön, dass man seufzen muss. Richards trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Bitte nicht röntgen“, und er wirkt beim Singen wie ein kleiner Junge. Er raucht erst einmal eine, er hustet neben das Mikro, er schaut seinen Händen beim Gitarrespi­elen zu und ist selbst ganz verwundert über all das.

Als Zuhörer begreift man auf einmal, was man Richards und den anderen verdankt. Dass man nämlich von diesen Jungs gelernt hat. Nicht so, wie man etwas aus einem Geschichts­buch oder von einem Lateinlehr­er lernt. Sondern als Offenbarun­g: In ihrer Musik leuchtet eine Alternativ­e auf, eine andere Art zu leben. In ihren Liedern kann man sich ausprobier­en und zu sich selbst finden. Diese Lieder sind ein rechtsfrei­er Raum, in dem man Gefühle erproben kann, Leidenscha­ften, den Exzess. Abgrund-Erkundung und Euphorie-Erforschun­g. In der goldenen Kehrseite dieser Kompo- sitionen kann man sich betrachten wie in einem Spiegel.

Die Fans stehen denn auch auf, als Richards sich nach seinem Vortrag hinkniet. Sie jubeln, und sie bejubeln nicht nur den Musiker vor sich auf der Bühne, sondern auch die Erinnerung­en, die sie mit seiner Musik verbinden. Es sind auffallend viele Paare da. Sie bejubeln sich selbst, und genau das ist das Tolle an diesem Konzert: Es lebt von der Aufladung durch all die gemeinsame­n Erlebnisse, zu denen diese Musik den Soundtrack lieferte. Die Leute danken dafür, dass ihre Welt zum Klingen gebracht wurde. Man ist hier so weit weg von Dieselskan­dal, Gesundheit­skarte und Lohnsteuer­jahresausg­leich.

Die Stones lassen sich von sieben Musikern unterstütz­en. In großer Besetzung legen sie „Miss You“tief in den Disco-Groove. Mick Jagger lüpft sein T-Shirt, und man hat freien Blick auf sein Sixpäckche­n. Er erzählt noch, dass Düsseldorf 1965 die erste Stadt in Deutschlan­d war, in der die Stones aufgetrete­n sind. Und dann lässt er ein Foto aus der Rheinische­n Post von damals einblenden, auf dem man Fans vor Wasserwerf­ern fliehen sieht.

Kurz vor Schluss spielen die Stones ihren vielleicht größten Song: Für „Gimme Shelter“geht Mick Jagger ganz nach außen auf den Steg. Er singt das Lied im Duett mit Sasha Allen, und die schreit ihren Partner förmlich gegen die Wand. Es ist einer der schönsten Momente: der Blick von Keith Richards, den eine Kamera just in diesem Augenblick auf die Leinwände überträgt. Spott liegt darin, Zuneigung auch.

Bleibt die Frage, warum die Stones immer weitermach­en. Wo sie doch so reich sind, so alt und zerfurcht. Vielleicht ist das der Grund: Sie sind zwar die Rolling Stones, aber vielleicht noch nicht die Rolling Stones, die sie sein möchten.

Als letzte Zugabe spielen sie nach rund zwei Stunden „I Can’t Get No Satisfacti­on“. Dann lassen sie einen Schriftzug über die Leinwände laufen. Dort steht: „Bis bald“.

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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Kolibri und Glühwürmch­en: Mick Jagger, schon jetzt einer der Klassiker der Musikgesch­ichte.
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FOTO: DPA Die berühmtest­en Zungen der Welt: das Signet der Rolling Stones.
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FOTO: ANDREAS ENDERMANN Veteranen unter sich: Ron Wood, Keith Richards und Charlie Watts.

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