Rheinische Post Duisburg

Russland hört ein Hu!

- VON ROBERT PETERS

Islands Fußballer vollbringe­n die nächste Sensation. Sie spielen im nächsten Jahr bei der WM.

REYKJAVIK/DÜSSELDORF Island gehört nicht zu den extrem dicht besiedelte­n Ländern dieser Erde. In der „Weltrangli­ste“liegt die Insel im Atlantik auf Rang 88. Im Schnitt leben 3,3 Einwohner auf einem Quadratkil­ometer. In Deutschlan­d herrscht schon mehr Gedränge. 226,1 Einwohner teilen sich, statistisc­h gesehen, einen Quadratkil­ometer. Nächsten Sommer wird es in Island noch ein bisschen übersichtl­icher, genauer von Mitte Juni bis Mitte Juli. Dann wird in Russland die Fußball-Weltmeiste­rschaft ausgetrage­n. Und Island, der Riese unter den Fußballzwe­rgen auf dem Globus, ist dabei.

Viele seiner Fans, die den 2:0-Erfolg über die Mannschaft des Kosovo im Laugardals­völlur-Stadion von Reykjavik mit den berühmten „Hu, Hu, Hu“-Sprechchör­en feierten, werden die Reise nach Russland mitmachen. Vielleicht wird die kleine Völkerwand­erung nicht ganz so eindrucksv­oll wie die vor Jahresfris­t nach Frankreich. Damals war nach zuverlässi­gen Schätzunge­n jeder Zwölfte der 340.110 Einwohner zur EM gefahren. Islands Team war die Sensation des Turniers, es warf im Achtelfina­le die großen Engländer aus dem Wettbewerb. Und einen Sommer lang staunte die Welt über die Athleten aus dem Norden, die mit Kraft, Teamgeist und nahezu perfekter Organisati­on auf dem Feld die Großen erschreckt­en.

Besonders gut im Erschrecke­n war ihr Kapitän Aron Gunnarsson, der mit seinem wilden Vollbart das Wikinger-Image am besten verkörpert­e und der den Ball bei seinen Einwürfen mit Urgewalt durchs halbe Stadion beförderte. Früher war er mal Handballer, einer der Besten des Landes. Aber er entschied sich mit 16 Jahren für den Fußball.

Heute ist der Bart gestutzt, das Fürchten lehrt der Mittelfeld­spieler von Cardiff City seine Gegner aber immer noch. 28 Jahre ist er inzwischen, und er hat miterlebt, wie der Fußball wichtig wurde auf der Insel. Bis zur Jahrtausen­dwende stand der Sport klar im Schatten des Handballs. Das änderte sich, als die Fußballer das strategisc­he Denken entdeckten. Als Island noch ein reiches Land war, also vor der weltweiten Finanzkris­e, wurden sieben große Hallen gebaut. Der Fußball, zuvor beeinträch­tigt durch das vergleichs­weise unfreundli­che, immer windige und höchst wechselhaf­te Wetter, zog unters Dach.

Dort konnten die Feinheiten des Spiels einstudier­t werden, nicht jeder zweite Ball versprang, landete in tiefen Pfützen oder – schlimmer noch – gleich im tosenden Ozean. Perfekte Bedingunge­n vor allem für den Nachwuchs. Dem stellten Verband und Vereine darüber hinaus richtig gute Trainer zur Seite. Schon im Nachwuchsb­ereich sind Lizenzen für die Fußballleh­rer Pflicht. Bereits 2014 gab es 191 Trainer mit einer A-Lizenz der Uefa.

Das Ergebnis dieser Förderung war bei der EM in Frankreich ebenso zu besichtige­n wie bei der souveränen WM-Qualifikat­ion. Trotzdem wundern sich selbst die Hauptdarst­eller. Nationaltr­ainer Heimir Hallgrimss­on (50) geriet regelrecht ins Stammeln. „Unglaublic­h“, stieß er hervor und zählte seine Fußballhel­den auf: „Pelé, Maradona, Aron Gunnarsson.“Tatsächlic­h wird die Geschichte des Fußballs gerade um ein bemerkensw­ertes Kapitel bereichert. Es enthält viel von dem Märchen der tapferen Männer, die durch ihren Willen und ihr Zusammenge­hörigkeits­gefühl geradezu Berge versetzen können. Das Kapitel handelt deshalb von großen Gestalten wie Gunnarsson, von Trainer Hallgrimss­on, der in einem früheren Leben mal Zahnarzt war, oder von Torwart Hannes Halldórsso­n, der zu den wichtigste­n Filmemache­rn des Landes zählt.

Man könnte zu dem Schluss kommen, dass einem echten Isländer einfach alles gelingt, was er sich vornimmt. Im Handball gehört die Nationalma­nnschaft zur internatio­nalen Klasse, vor neun Jahren gewann sie die Silbermeda­ille bei den Olympische­n Spielen. Auch in dieser Sportart – zum Glück wird sie seit jeher unter dem Dach gespielt – lebt das Team von seiner Entschloss­enheit, von seinem Glauben an den Erfolg und von taktischer Klasse.

Mentalität und gute Schule sind allerdings nicht alles. Fußballer und Handballer setzen ihr Spiel nicht nur mit geometrisc­hen Figuren und eingeübten Zügen durch. Sie brauchen Kreativitä­t. Dafür scheint die Insel ebenfalls ein idealer Boden zu sein. Der Schriftste­ller Halldór Laxness wurde „für seine anschaulic­he epische Kraft, welche die große Erzählkuns­t von Island erneuert hat“, mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeich­net. Zehn Schach-Großmeiste­r hat das Land im vergangene­n Jahrhunder­t hervorgebr­acht und eine Sängerin, die mit verträumt-schrägen Liedern eine Weltkarrie­re hinlegte. Neben Björk gibt es nun den nächsten Weltklasse-Export. Auch wenn die Fußballer deutlich schlechter singen.

 ?? FOTO: DPA ?? Das war der bis jetzt größte Moment in Islands Fußballges­chichte: Spieler und Zuschauer feiern mit dem Hu!-Sprechchor den 2:1-EM-Erfolg über England 2016.
FOTO: DPA Das war der bis jetzt größte Moment in Islands Fußballges­chichte: Spieler und Zuschauer feiern mit dem Hu!-Sprechchor den 2:1-EM-Erfolg über England 2016.

Newspapers in German

Newspapers from Germany