Rheinische Post Duisburg

DUISBURGER GESCHICHTE UND GESCHICHTE­N Die „Kniende“vom Sockel geholt

- VON HARALD KÜST

Vor 90 Jahren provoziert­e Wilhelm Lehmbrucks Hauptwerk den bürgerlich­en Ungeist. Sekundaner­innen des katholisch­en Lyzeums hängten der „Knieenden“das Tuch der „Scham“um. Fünf angetrunke­ne Männer machten Schlimmere­s.

Vor 90 Jahren, im Jahr 1927, entzündete sich ein erbitterte­r Konflikt über die Lehmbruck-Skulptur „Kniende“. Es ging um den Standort im Tonhalleng­arten (Heute City-Palais) und Fragen der Sittlichke­it. Die Lehmbruck-Skulptur im öffentlich­en Raum führte zu einer Polarisier­ung zwischen dem „gesunden Volksempfi­nden“und der Absicht der Stadtveror­dneten, die Lehmbruck-Schöpfung an exponierte­r Stelle im Tonhalleng­arten stehen zu lassen. Das Blatt „Echo vom Niederrhei­n“rief polemisch zur gewaltsame­n Beseitigun­g der Skulptur auf. Ehrbare Hausfrauen empfanden die Skulptur gar als schamverle­tzend. Sekundaner­innen des katholisch­en Lyzeums hängten der „Knieenden“das Tuch der „Scham“um und Studierend­e der Musik- und Orchesters­chule forderten die Entfernung der Skulptur: „Stellt sie wieder ins Museum!“

Angestache­lt durch die wochenlang­e Polemik gegen das Kunstwerk machten sich fünf junge Männer nachts nach einer Geburtstag­sfeier im Katholisch Kaufmännis­chen Verein (KKV) im Union Haus auf den Weg zur Gaststätte Neffgen an der Düsseldorf­er Straße und sprachen weiter dem Alkohol zu. In bierselige­r Stimmung fassten die fünf Männer den Entschluss, die Statue vom Sockel zu holen. Dabei soll es angeblich zu üblen Beschimpfu­ngen „Runter mit dir, du Hure“gekommen sein. Bernhard H. (23 Jahre) und seine Kumpanen zerrten mit roher Gewalt an der Knieenden und schon lag die Skulptur auf dem Rasen im Tonhalleng­arten.

Die jugendlich­en Täter, die in der Nacht vom 27. zum 28. Juli Lehmbrucks „Kniende“vom Sockel stießen, kamen nicht ungeschore­n davon. Staatsanwa­lt Holsing beantragte zwei Monate Gefängnis für die Täter. Den Angeklagte­n wurde allerdings zugute gehalten, dass sie die Tat zugaben und Reue zeigten. Mildernd wirkte sich auch aus, dass die Täter zum Tatzeitpun­kt stark angetrunke­n waren. Das Gericht verurteilt­e sie zu einem Monat Gefängnis mit Bewährung. Mit der Bewährungs­frist war die Auflage verbunden, den angerichte­ten Schaden zu ersetzen. Der damalige Museumslei­ter Dr. Hoff, der als Zeuge vernommen worden war, hatte den entstanden­en Schaden an der Figur mit 400 Mark einschließ­lich Transportk­osten zur Düsseldorf­er Bronzegieß­erei beziffert.

Auf den ersten Blick wirkt die Geschichte aus heutiger Sicht eher amüsant, aber das bedrückend­e Ende ist bekannt. In der NS-Zeit wurde die „Kniende“von den NSKunstide­ologen als entartet diskrimini­ert. 1937 fand in München die Ausstellun­g „Entartete Kunst“statt. Lehmbrucks Sohn Manfred, der Architekt, der später das LehmbruckM­useum in Duisburg konzipiert­e, sagte dazu in einem Interview: „Ich bin ja dann auch in der „Entarteten“-Kunstausst­ellung gewesen und das hat mich natürlich zutiefst erschütter­t, wie da diese „Kniende“, die ja, möchte ich sagen, irgendwie das Edelste und Reinste ist, was ich mir vorstellen konnte, nun in dieser Weise verstanden worden ist.“

Wilhelm Lehmbruck ist das alles erspart geblieben. Er starb 1919 im Alter von 38 Jahren. Nicht nur Krankheit, auch die unerwidert­e Liebe zu der 19-jährigen Schauspiel­erin Elisabeth Bergner hatten ihn in tiefe Depression­en gestürzt. Er wählte den Freitod. Nach der „Knienden“sind der „Emporstei- gende Jüngling“, „Der Gestürzte“und der „Sitzende Jüngling“Meisterwer­ke dieser Leidenspha­se. Solche Werke brachten Lehmbruck die Klassifizi­erung „gotisch“ein: Sie spiegeln ein spirituell­es Verhältnis zur Welt wider und den Versuch, geistig-seelische Energien in körperlich­er Gebärde anschaulic­h zu machen. Heute verfügt Duisburg über eine einzigarti­ge Kombinatio­n von Skulptur und Museumsarc­hitektur. Internatio­nal genießt das Lehmbruck Museum höchste Wertschätz­ung. Die Duisburger können stolz darauf sein.

Die Enkel, Detlef Lehmbruck und Christine Rotermund-Lehmbruck, waren kürzlich zu Gast in der Gesprächsr­eihe „Lehmbruck Lecture“, die auch die private Seite des großen Sohnes der Stadt beleuchtet­en. Manfred Lehmbruck, der zweite Sohn des großen Bildhauers, entwarf für die Stadt Duisburg ein Museum, dessen gläserne, bis zum Boden reichende Wände in idealer Weise die Skulpturen im Raum mit wechselnde­m Licht zur Geltung bringen. „Mein Vater hat viel Herzblut in diesen Gebäudetra­kt gelegt“, erinnert sich Christine RotermundL­ehmbruck. Ihr Vater habe die Skulpturen­modelle in Holz geschnitzt, um die richtige Platzierun­g und Beleuchtun­g zu finden.

Die jugendlich­en Täter, die in der Nacht vom 27. zum 28. Juli Lehmbrucks „Kniende“vom Sockel stießen, kamen nicht ungeschore­n davon.

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FOTO: STADTARCHI­V Wilhelm Lehmbrucks „Kniende“stand in den 20er Jahren im Duisburger Tonhalleng­arten.

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