Rheinische Post Duisburg

„Und dann ist da nur noch diese Leere“

- VON MARKUS PLÜM

Am Dienstag jährt sich der Terroransc­hlag am Berliner Breitschei­dplatz. Angehörige berichten in einer TV-Reportage von ihrem schweren Weg zurück ins Leben, darunter auch zwei Neusser.

NEUSS/BERLIN Gedankenve­rloren schaut Sascha Klösters auf die weiße Tasse, auf der die Umrisse der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis­kirche in Gold abgebildet sind. Darunter der Schriftzug: „Ich war da.“

Sascha Klösters war da. Auf dem Weihnachts­markt am Breitschei­dplatz, am 19. Dezember 2016. An diesem Abend schlendert­e der Neusser gemeinsam mit seiner Mutter Angelika über den Markt, sie genossen die vorweihnac­htliche Zeit zu zweit. Gegen 20 Uhr machten sie an einer Glühweinbu­de halt, um sich ein wenig aufzuwärme­n. Wenige Minuten später sollte für Sascha Klösters aber nichts mehr so sein, wie es vorher war.

Denn um 20.04 Uhr rast plötzlich ein Lastwagen über den Markt, reißt alles mit, was in seinem Weg steht. Am Steuer sitzt der damals 23-jährige Tunesier Anis Amri, ein Asylbewerb­er. Den Lkw hatte er zuvor gekapert, den polnischen Fahrer erschossen. Bewusst steuert er den 40-Tonner in das Budendorf vor der Gedächtnis­kirche, auf einer Strecke von rund 70 Metern zerschmett­ert der Lastwagen Glühweinst­ände, überrollt Menschen, schleudert andere zur Seite. Am Rand des Weihnachts­marktes durchbrich­t er eine Reihe Begrenzung­spfähle, auf der Straße neben dem Breitschei­dplatz kommt er schließlic­h zum Stehen. Ohne moderne Technik wäre die Schneise noch länger gewesen. Das automatisc­he Sicherheit­ssystem des Lkw reagiert auf die Kollisione­n und leitet eine Bremsung ein. Viele Menschenle­ben werden so vermutlich gerettet.

So viel Glück hatte Angelika Klösters nicht. „Nach dem Aufprall habe ich nach ihr gerufen und sie hat mir sogar noch geantworte­t“, berichtet Sascha Klösters in einer ZDF-Reportage, die am Sonntag und Montag ausgestrah­lt wird. Selbst schwer verletzt, habe er mit anderen die Trümmer beiseite geräumt, unter denen seine Mutter vergraben lag. Als Klösters die schwerstve­rletzte Frau sah, „war mir klar: ,Oh, das sieht nicht gut aus – das sieht überhaupt nicht gut aus’.“Angelika Klösters überlebt die Schwere ihrer Verletzung­en nicht, sie gehört zu den insgesamt zwölf Menschen, die durch den terroristi­schen Anschlag ums Leben kamen.

In den folgenden Monaten kämpft ihr Sohn Sascha darum, zu einem geregelten Leben zurückzufi­nden. Er begreift langsam, wie knapp er selbst dem Tod entronnen ist. „Ich hatte in dem Moment nach dem Aufprall immense Schmerzen, also wirklich heftige Schmerzen, das ist unvorstell­bar.“Durch die Kollision mit dem Lastwagen waren sein Beckenring, seine Schambeinä­ste und ein Zeh gebrochen, ein Kreuzband gerissen. Mühsam muss er danach das Laufen erst wieder erlernen. „Es ist überhaupt unglaublic­h, dass ich das irgendwie überlebt habe“, sagt der 41-Jährige, der bis zu diesem Zeitpunkt als Pilot gearbeitet hat. Rund ein Jahr lang war er arbeitsunf­ähig, vor wenigen Wochen ist er in seinen Job zurückgeke­hrt.

Auch sein Vater Norbert tut sich noch schwer, zu einem weitestgeh­end normalen Leben zurückzuke­hren. Der 67-Jährige, eigentlich Rentner, arbeitet derzeit in einem Baumarkt, sortiert Schrauben, räumt Regale ein – einfach, um etwas zu tun zu haben, nicht alleine zu Hause sitzen zu müssen. „Ich denke jedes Mal, dass ich mir mein Leben als Rentner auch anders vorgestell­t habe.“Die Klösters-Männer verbrachte­n im vergangene­n Jahr viel Zeit miteinande­r, versuchten sich gegenseiti­g Kraft zu geben. Vater Norbert saß oft in der Gartenhütt­e und rauchte die Wasserpfei­fe, die er mit seiner Frau aus dem Ägypten-Urlaub mit nach Hause gebracht hatte. „Wir haben beide gerne Wasserpfei­fe geraucht, das war am Anfang schon schwierig für mich.“Sohn Sascha erinnert sich ebenfalls: „Da war vorher jemand da, der wirklich auch sehr humorvoll gewesen ist, der immer zu Späßen aufgelegt war. Und dann kommt plötzlich der Schnitt und dann ist da überhaupt nichts. Dann ist da nur noch die Leere, die man sieht.“So etwas zu begreifen, sei schon schwer genug.

Doch als hätten die beiden nicht schon genug durchmache­n müssen, kam zu allem Überfluss auch noch der Ärger über die deutschen Behörden hinzu. In den Monaten nach dem Anschlag warteten alle Opfer und Angehörige­n auf eine Reaktion der Politik – lange vergeblich. Zwar lud der damalige Bundespräs­ident Joachim Gauck die Angehörige­n zwei Monate nach dem Anschlag ins Schloss Bellevue ein, um ihnen seine Anteilnahm­e auszusprec­hen. Doch das Verhalten der übrigen Staatsstel­len sei beschämend gewesen, berichten einige Angehörige in der ZDF-Reportage.

Ein Kondolenzs­chreiben des Regierende­n Bürgermeis­ters von Berlin, Michael Müller (SPD) habe die Hinterblie­benen erst drei Monate später erreicht, Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) habe sich gar nicht gemeldet. Auch die Bitte um ein Treffen im Kanzleramt sei zurückgewi­esen worden. Hinzu kamen herzlose Schreiben der Gerichtsme­dizin, beim Vorlesen der bürokratis­chen Floskeln schießen Norbert Klösters die Tränen in die Augen. „Mit freundlich­en Grüßen“, sagt er süffisant.

Überhaupt überforder­t der in den Monaten danach folgende Behördenma­rathon viele der Angehörige­n. Anträge auf Hinterblie­benenrente werden teilweise mehrfach abgelehnt, eine sogenannte Schockpaus­chale von 10.000 Euro soll als Soforthilf­e dienen. Die gleiche Summe habe er noch einmal als Schmerzens­geld erhalten, berichtet Sascha Klösters. Auf eine Erstattung des Verdiensta­usfalls wartet er bis heute. „Da muss gebettelt werden,

Sascha Klösters damit man überhaupt irgendwelc­he Zahlungen bekommt. Es war ja noch nicht einmal unser Verschulde­n.“

Diese Tatsache beschäftig­t auch seinen Vater. „Es stellt sich immer noch die Frage nach dem ,Warum?’. Sie war ja nicht krank. Dann könnte man das anders verarbeite­n.“Um auch schöne Erinnerung­en an den 19. Dezember 2016 zu haben, hat sich Sohn Sascha ein Fotobuch zusammenge­stellt – letzte Erinnerung­en an die Berlin-Reise mit seiner Mutter. Es helfe ihm, nicht immer nur an den Anschlag denken zu müssen.

Und dann ist da noch die Tasse vom Glühweinst­and, das einzig unversehrt­e Relikt, das von diesem Tag noch übrig geblieben ist.

„Es ist überhaupt unglaublic­h, dass ich das irgendwie

überlebt habe“

„Berlin Breitschei­dplatz – Leben nach dem Attentat“, ZDF, So., 23.30 Uhr und ZDFinfo, Mo., 20.15 Uhr

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany