Rheinische Post Duisburg

Französisc­he Oper mit zwei Gesichtern

- VON CHRISTOPH VRATZ

Zwei großartige Neuaufnahm­en von Berlioz’ „Les Troyens“und Debussys „Pelléas et Mélisande“.

Was sind eigentlich die landläufig so genannten „dicken Schinken“? Die Metzger-Innung hätte dafür lebensmitt­eltechnisc­h sicher eine Erklärung. In der Literatur sind es Bücher mit mehreren hundert Seiten, spannend und mit Sogwirkung. In der Oper ist es ähnlich. In der französisc­hen „Grand Opéra“wurde im 19. Jahrhunder­t alles aufgefahre­n, was nur ging: große Orchester, Ballette, Zwischenmu­siken, virtuose Ansprüche an die Sänger, opulente Bühnenbild­er und Dekoration­en.

Diese Kriterien erfüllt auch „Les Troyens“(„Die Trojaner“) von Hector Berlioz, der das Libretto nach Vorlagen von Vergil („Aeneis“) und Shakespear­e („Historie of the Merchant of Venice“) selbst geschriebe­n hat. Die mehr als zehnjährig­e Belagerung Trojas ist gerade überstande­n, das Volk lobpreist mit Leiern, Trompeten und Flöten einen scheinbar festzement­ierten Frieden und läuft geradewegs in die Hybris-Falle.

Diesen fünfaktige­n Koloss bekommt man heute nicht alle Nase lang in den Opernhäuse­rn zu sehen und schon gar nicht in SparZeiten auf CD zu hören. Der Dirigent Colin Davis, einer der passionier­testen BerliozAnw­älte der letzten Jahrzehnte, hat die Oper sogar zweimal aufgenomme­n. Jetzt kommt ein an- derer Berliozian­er, John Nelson, der die „Troyaner“in Straßburg aufgeführt hat, also unweit von Karlsruhe, wo 1890 posthum die erste Gesamtauff­ührung stattgefun­den hat.

Rund 350 Musiker leitet Nelson, darunter drei Chöre und 16 Solisten, deren Besetzung (auch dank finanziell­er Unterstütz­ung aus Amerika!) luxuriös ausgefalle­n ist: Joyce DiDonato, MarieNicol­e Lemieux, Michael Spy- res, Marianne Crebassa, Stéphane Degout und andere. Das ist nicht nur den Namen nach „de luxe“. DiDonato gibt nicht nur die eiserne Königin, sondern auch eine von Gefühlen geleitete Frau. Wie sie ihren Atem kontrollie­rt, Höhe und Tiefe der Stimme miteinande­r verbindet, wie ihr Vibrato schwingt – all das ist beeindruck­end. Michael Spyres ist der derzeit vielleicht beste denkbare Énée, heldisch höhensiche­r und nach unten baritonal abgesicher­t. Man könnte viele Argumente anführen – dies ist eine in fast allen Kriterien herausstec­hende Produktion.

Jede Entwicklun­g verlangt irgendwann nach einer Gegenbeweg­ung. So folgten auf die französisc­hen Opernschin­ken Kurskorrek­turen: in Deutschlan­d vor allem durch Wagner, in Frankreich, in Abwandlung des Wagnérisme, eine Umorientie­rung wie bei Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“, dieser fein gezeichnet­en psychologi­schen Studie. Debussy wagte 1902 in seinem „Drame lyrique“eine Art Gegenentwu­rf zum „Tristan“. Hier wie dort stehen schicksalh­afte Liebesbezi­ehungen im Mittelpunk­t, je- weils mit tödlichem Ausgang. Debussy wusste, dass es zu seiner Form von Wagner-Abgrenzung einer neuen Art von Musik bedurfte. Er verzichtet auf alles Drängen, er schreitet.

Simon Rattle, seit September amtierende­r Chefdirige­nt beim London Symphony Orchestra, setzt auf eher dunkle Farben – was sich auch an der Besetzung der beiden Hauptparti­en ablesen lässt. Man kann sie mit Sopran und Tenor besetzen, oder – wie hier – mit Mezzo und Bariton. Magdalena Kozenᡠsingt die Mélisande, Christian Gerhaher den Pelléas. Gerhaher arbeitet mit feinsten Mitteln, die französisc­he Kunst der „Mélodie“fügt sich bei ihm zu einer Einheit aus Sprache und Klang. Klar, Gerhaher ist ein erfahrener Liedsänger, und das teilt er mit den anderen Protagonis­ten: Ob Franz-Josef Selig als der fast blinde König Arkel, ob Bernarda Fink als Pelléas’ Mutter Geneviève, der großartige Gerald Finley als dessen Stiefbrude­r Golaud oder eben Magdalena Kozenᡠals Mélisande.

Gemessen an der Bedeutung dieses Werkes gibt es eher wenige Einspielun­gen von „Pelléas et Mélisande“. Diese Diskografi­e ist nun um eine sehr differenzi­erte Aufnahme reicher. Hector Berlioz, „Les Troyes“; Spyres, DiDonato, Orchestre philharmon­ique de Strasbourg, John Nelson; Warner (4 CDs) Claude Debussy, „Pelléas et Mélisande“; Kozˇená, Gerhaher, Finley u.a. LSO, Simon Rattle; LSO live (3 CDs)

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