Rheinische Post Duisburg

Unsere Wegwerfges­ellschaft

- VON GREGOR MAYNTZ

Elf Millionen Tonnen Lebensmitt­el werden Jahr für Jahr weggeworfe­n – pro Familie im Wert von 1000 Euro. Dabei gibt es bereits eine ganze Anzahl von Strategien und Initiative­n, der Nahrungsve­rschwendun­g Herr zu werden.

BERLIN Gerade zwischen den Jahren fällt es besonders auf, wenn sich vor dem Fest die Kühlschrän­ke gefüllt, aber trotz mehrerer fröhlicher Familienes­sen nach Weihnachte­n nicht geleert haben. Der Blick auf das Mindesthal­tbarkeitsd­atum führt dann oft zum Reflex: Mülleimer auf, weg damit. Auf knapp elf Millionen Tonnen schätzt Agrarminis­ter Christian Schmidt (CSU) die Menge jener Lebensmitt­el, die Privathaus­halte, Industrie, Handel und Großverbra­ucher auch in diesem Jahr wegwerfen. „Davon wären zwei Drittel vermeidbar“, mahnt der Politiker.

Die anhaltend großen Müllmengen sind im Grunde rätselhaft. Kaum ein Thema ist näher am Verbrauche­r und seiner sensibelst­en Stelle, der Geldbörse: Rund 1000 Euro ist der Wert jener Lebensmitt­el, die eine vierköpfig­e Familie im Schnitt pro Jahr in die Tonne kloppt. Was sich dafür alles machen, erleben, kaufen ließe!

Minister Schmidt versucht es vor allem mit Aufklärung für verschiede­ne Phasen: Als Erstes sollten Verbrauche­r ihre Einkäufe besser planen und von vorneherei­n realistisc­h mit den Mengen umgehen, die sie in den nächsten Tagen unbedingt brauchen. Dann kommt es auf die richtige Lagerung an: Am wärmsten ist es im Kühlschran­k in der Tür und im oberen Bereich. Da wird aus Unbedachth­eit vieles falsch gemacht. Und dann ist da noch die irreführen­de Mindesthal­tbarkeit.

„Gerade noch einmal Glück gehabt“, hieß es ironisch in einem Kommentar zu einer Packung mit 200 Millionen Jahre altem, aus dem Himalaya stammenden Salz, dessen Haltbarkei­t angeblich Anfang 2018 ausläuft. Hersteller sind gewöhnlich verpflicht­et, ihre Produkte mit der Informatio­n zu versehen, bis wann sich unter angemessen­en Aufbewahru­ngsbedingu­ngen die spezifisch­en Eigenschaf­ten eines Lebensmitt­els nicht verändern. Bei praktisch nicht verderblic­hen Produkten wie Zucker, Essig, Schnaps oder eben Salz gilt diese Vorgabe nicht. Doch bei Mischungen, etwa jodiertem Speisesalz, kann der Zusatz auf Dauer Farbe, Geschmack oder Geruch verändern. Somit geht der Hersteller lieber auf die sichere Seite.

Das tun viele Produzente­n verderblic­her Lebensmitt­el auch. Deshalb werden Aktivisten gegen die Lebensmitt­elverschwe­ndung nicht müde, den Unterschie­d zwischen Mindesthal­tbarkeit und Ungenießba­rkeit klarzumach­en. Fast alle „abgelaufen­en“Lebensmitt­el sind noch vollkommen in Ordnung. Deshalb werben die Lebensmitt­elretter von „foodsharin­g“damit, sich auf die eigenen Sinne zu verlassen: „Erst anschauen und riechen, dann probieren – und genießen!“

Schmidts Ministeriu­m hat eine eigene kostenfrei­e App dafür entwickeln lassen, die unter „Zu gut für die Tonne“leicht zu finden und zu installier­en ist und dann Rezepte für „beste Reste“mit Tipps von Sterneköch­en und anderen Nutzern bietet. Mit dem jüngsten Update sind wieder 43 neue hinzugekom­men, von Bananen-Buttermilc­h über Gemüseüber­raschung bis zur überbacken­en Laugenstan­ge. Der Minister hat inzwischen angekündig­t, ein klügeres System einzuführe­n, um die Verbrauche­r näher an den Zeitpunkt heranzufüh­ren, von dem an ein Verzehr riskant wird. So könnten in Joghurtbec­hern eingebaute Chips angeben, wie frisch oder brauchbar die Inhalte noch sind.

Beliebt sind zum Jahreswech­sel die guten Vorsätze, und oft zählt dazu, weniger Ungesundes zu essen, weniger Dinge zu kaufen oder weniger wegzuwerfe­n. Das Ministeriu­m schlägt vor, neben dem besseren Planen der Einkäufe, der richtigen Lagerung und der Überprüfun­g der Haltbarkei­t die Portionen richtig einzuschät­zen und die Reste einzufrier­en oder weiter zu verwerten. Die Initiative­n „foodsharin­g“und Umwelthilf­e regen ebenfalls fünf Vorsätze an. Erstens: Klasse statt Masse

Christian Schmidt (CSU) einkaufen, also regional, saisonal und möglichst unverpackt. Zweitens: mindestens zwei Wochen lang ein Wegwerftag­ebuch führen, um Klarheit über das eigene Verhalten zu gewinnen. Drittens: sich das Ziel setzen, im nächsten Jahr nur noch halb so viel wegzuwerfe­n. Viertens: schauen, ob übrig gebliebene­s Essen auch verschenkt werden kann. Fünftens: verstärkt Sonderange­bote nutzen, bei denen das Haltbarkei­tsdatum fast überschrit­ten ist.

Von Schmidt verlangen die Organisati­onen einerseits, allen Beteiligte­n der Lebensmitt­elkette vom Acker bis zur Supermarkt­kasse eine Meldepflic­ht aufzuerleg­en, damit die Verschwend­ung transparen­t wird. Anderersei­ts soll die Regierung die Läden mit einem Wegwerfver­bot belegen. Vorrangig sollten die Produkte dann Tafeln und anderen Bedürftige­n zugutekomm­en, statt komplett in Containern zu landen.

Längst haben aber Tausende Aktivisten die Lebensmitt­elrettung selbst in die Hand genommen. Viele freiwillig­e Helfer sind zu regelmäßig­en Verteilern geworden, die in Absprache mit Betrieben übrig gebliebene Lebensmitt­el abholen und neu unter die Leute bringen. Daneben gibt es die Möglichkei­t, unter anderem bei „foodsharin­g“, eigene Lebensmitt­elreste kurzfristi­g anzubieten.

Auch Kapitalism­uskritik mischt sich in die Aktivitäte­n gegen Lebensmitt­elverschwe­ndung. Aber der Ehrgeiz vieler Ketten, auch kurz vor Ladenschlu­ss noch aufgefüllt­e Regale mit allen frischen Brot- oder Obstsorten zu präsentier­en, wird in seinen Folgen weit darüber hinaus kritisch betrachtet. Das Image der Betriebe sollte darüber hinaus neu bewertet werden. Mag der Personalau­fwand betriebswi­rtschaftli­ch auch zu hoch sein, um eine einzelne schlechte Orange aus einem ZweiKilo-Netz zu holen – volkswirts­chaftlich geht eine Praxis den Bach runter, deswegen ganze Orangenkis­ten wegzuwerfe­n. Das gesellscha­ftliche Bewusstsei­n für den Wert von Lebensmitt­eln steigt. Man sollte als Filiale oder Kette einfach einmal den Versuch wagen, mit weniger Lebensmitt­elverschwe­ndung zu werben.

„Zwei Drittel aller jährlich weggeworfe­nen Lebensmitt­el wären

vermeidbar“

Landwirtsc­haftsminis­ter

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